Ein heiliger Eid

kscheib notar

Fast fünf Jahre lang habe ich es geschafft: Ein Leben hier in Russland, ohne dass ich je eine notariell beglaubigte Übersetzung meines deutschen Passes gebraucht hätte. Das war kein bewusstes „Ich komme ohne aus“, mir war einfach nicht klar, dass sowas irgendwann mal ein Thema sein könnte.

Dann kam die Steuererklärung, der Steuerberater brauchte eine Vollmacht, und bei der Notarin im Keller auf der anderen Straßenseite hieß es sinngemäß: Na, wie sollen wir denn ihre Unterschrift auf der Vollmacht beglaubigen, wenn wir nicht mal wissen, wer Sie sind? Dass, wenn nicht im Pass, so doch auf dem dort eingeklebten Visum all meine Daten auch auf Russisch stehen – egal. Das muss übersetzt werden, da muss ein Stempel drauf und eine Notarinnenunterschrift drunter und eine gedrehte Kordel dran, die alles zusammenhält.

Leben in Russland, das ist halt immer wieder die Erkenntnis: So einfach ist das alles nicht. Was wir dir gesagt haben, was du an Unterlagen brauchst – das war eher so eine vorläufige Liste. Ding 1, für das du Eltern, Freunde, frühere Kollegen in Deutschland um eilige Hilfe gebeten hast, Amts- und Bankmitarbeiter am Telefon charmiert, mit Expressgebühren und Schlafmangel bezahlt – das ist uns jetzt egal. Dafür wollen wir nun bitte Ding 2, und zwar nicht einfach als Kopie, sondern mit neuen Stempeln von deiner alten Uni und Apostille von der Bezirksregierung in Arnsberg.

Für dieses Visum brauchst du keinen HIV-Test. Für das nächste schon. Für das nächste danach reicht ein HIV-Test nicht, du brauchst zusätzlich noch einen auf Lepra, Tuberkulose, psychische Probleme und Ausschlag auf Rücken oder Bauch. Und für das wieder nächste Visum brauchst du dann definitiv keinen HIV-Test, bis es plötzlich drei Tage vor dem Termin beim Konsulat ist und du brauchst ihn doch.

Darum hier ein heiliger Eid. Ich leiste ihn für den Fall, dass ich irgendwann mal zurückkomme nach Russland, nicht im Urlaub oder um Freunde zu besuchen, sondern für länger. Und wer weiß, vielleicht ist er ja auch nützlich für Leute, bei denen der Schritt hierher gerade erst ansteht – vor allem, wenn sie dabei kein internationales Großunternehmen mit eigener „Expat Support“-Abteilung im Rücken haben.

Ich werde immer vier biometrische Passbilder bei mir haben. Eines mit den vorgegebenen Maßen für russische und eines für deutsche Dokumente, jeweils einmal als Datei und einmal als Abzug.

Ich werde mir früh eine Bank in Deutschland suchen, bei der das Abheben im Ausland nichts kostet. Und eine Bank in Russland, weil selbst beim kostenlosen Abheben oft nur 7500 Rubel auf einmal erlaubt sind, und weil von der russischen Taxi-App bis zur Ticketkasse am Opernhaus von Odessa oft nur eine russische Kreditkarte akzeptiert wird.

Ich werde mir das Limit der Kreditkarte erhöhen lassen. Was für den Alltag in Deutschland reicht, wird plötzlich eng, wenn man mit gebrochenem Arm im Krankenhaus steht und die Operation vorab bezahlen soll.

Ich werde mir einen Haufen Dokumente noch in Deutschland beglaubigen oder am besten direkt apostillieren lassen. Abizeugnis, Diplomzeugnis, Stammbuch, Geburtsurkunde, Eheurkunde. Das verhindert nicht nur das Bedürfnis, schon bei der Erwähnung des Wortes „Apostille“ in Tränen auszubrechen. So, wie es selten regnet, wenn man einen Schirm dabei hat, gehe ich nach aller Russlanderfahrung davon aus, dass man diese einmal angefertigten Dokumente dann auch nicht mehr braucht.

Ich werde meinen Pass, sobald ich in Russland bin, übersetzen und beglaubigen lassen. Dito den Führerschein. Vielleicht auch den Perso, man weiß ja nie. Oder den Impfpass.

Ich werde mich rechtzeitig fürs Vielfliegerprogramm anmelden. Fliegen mit Russen – nein, eigentlich: Schlangestehen mit Russen ist ein anstrengender Zeitvertreib. Von den Privilegien, die man sich nach und nach erfliegt, ist die Expressschlange am Check-in, in der man nicht eine halbe Stunde lang mit ausgefahrenen Ellenbogen verhindern muss, dass alle an einem vorbeiziehen, das größte Privileg.

Ich werde diesen Eid hier ergänzen, wenn mir noch mehr Dinge einfallen, die ich von Anfang an hätte tun und wissen sollen.

Russball, Folge 5: Frauenfußball, Stalingrad und Alkohol

Draußen Regen, drinnen Kerzenschein. So schön, dieser Moskauer Herbst, da kann man sich wenigstens aufs Bloggen konzentrieren und wird nicht durch Draußensitzen, Freilufttrinken oder gar Grillen abgelenkt. Okay, er hätte jetzt nicht schon im Juli anfangen müssen, aber was soll’s.

12 Grad und Regen, das hat ja auch seine schönen Seiten: Wenn hier demnächst die neue Saison in der Ersten Liga anfängt, können sie einfach von Anfang an den roten Fußball nehmen. Kann ja nicht mehr lange dauern bis zum ersten Schnee.

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⚽ Eine Erfolgsmeldung zum Start. Die immer wieder vorgebrachte These, dass sportliche und andere Großereignisse in autoritär regierten Ländern dazu beitragen können, diese weltoffener, freier, liberaler zu machen, ist endlich belegt. Seit wenigen Tagen gilt in Russland tatsächlich eine neue Regelung, die einen entscheidenden Lebensbereich liberalisiert: den Konsum

Wer alkoholische Getränke kaufen wollte,  musste dazu bisher an der Kasse auf Nachfrage den Pass zeigen. Künftig geht das auch mit Führerschein oder Fan-ID, schließlich sollen auch Touristen an Bier oder Wodka kommen, wenn sie gerade den Pass nicht dabei haben. Geschichte wird gemacht. Es geht voran. 

⚽ Schon der zweite deutsche Neuzugang bei Lokomotive Moskau innerhalb weniger Monate. Warum das keiner mitbekommen hat? Weil es nicht um Spieler geht. Ende Januar hat sich der Verein Erik Stoffelshaus als neuen Sportdirektor geholt, der vorher erst ein gutes Jahrzehnt bei Schalke und dann einige Jahre in Kanada war (und in seiner Twitter-Biografie stilecht „Entscheidend is auf’m Platz!“ zitiert).

Jetzt stößt Willi Kronhardt, ehemaliger Profifußballer und Trainer, als internationaler Scout hinzu. Der Mann ist das, wozu wir oft etwas ungenau „Russlanddeutscher“ sagen, was in seinem Fall heißt: Er verbrachte die ersten Jahre seiner Kindheit in Kasachstan. Und so, wie ich ihn hier gerade als Deutschen reklamiert habe, titelt die Website „Tengrinews.kz“ ihrerseits dann auch ganz stolz: „Gebürtiger Kasache bekommt einen Posten bei Lokomotive Moskau.“

⚽ An Polina Gagarina erinnert sich vielleicht die eine oder der andere noch, sie hätte mit „A Million Voices“ 2015 beinahe den Eurovision Song Contest gewonnen. Nun reicht sie, mit ordentlich Vorlauf, schon mal ihre Bewerbung für den Fußball-WM-Hit 2018 ein: „Команда 2018“, also „Mannschaft 2018“, wobei es laut Gagarina und ihren Mitmusikern DJ Smash und Egor Kreed nicht nur um Fußball gehen soll: „Ein Team, das sind nicht nur 11 Leute auf dem Platz. Ein Team, das sind wir mit dir zusammen.“ Kuckstu hier:

⚽ Beim Confed Cup war ja erst kurz vor Beginn klar, welcher russische Fernsehsender zu welchen Konditionen die Spiele zeigen würde. Insofern ist es nicht allzu beunruhigend, wenn man liest, dass es für die russischen Übertragungsrechte der Fußball-WM noch keine Einigung gibt. Sind ja noch elf Monate bis zum Eröffnungsspiel. Okay, AP merkt zu Recht an, dass die FIFA sowas sonst Jahre im Voraus aushandelt. Aber eben nicht in Russland.

In den USA hält FOX die Übertragungsrechte und wird darum jetzt fleißig von allerlei Social-Media-Plattformen umworben. Facebook, Snapchat und Twitter wissen schließlich alle, wie sehr Sport ihre Nutzer begeistert und bindet – und sollen daher Angebote in zweistelliger Millionenhöhe gemacht haben, um online Videos von Höhepunkten der Spiele zeigen zu dürfen. 

⚽ Was auch noch unklar ist: Wo die Fans alle wohnen sollen, die da kommenden Sommer zur WM anreisen. Rosturism, die russische Tourismusbehörde, kommt in einer Bestandsaufnahme zu dem Schluss, dass es nicht genügend Hotels gibt. Von den elf Spielorten gebe es lediglich in Moskau, Sankt Petersburg, der Republik Tatarstan (also rund um Kasan), der Region Krasnodar (Sotschi) und der Oblast Swerdlowsk (Jekaterinburg) ausreichend Hotelzimmer. 

Im Umkehrschluss heißt das: Wer ein Spiel in Kaliningrad, Nischni Nowgorod, Rostow am Don, Samara, Saransk oder Wolgograd sehen will, sollte die Daumen drücken, dass sich da bis zur WM noch was tut – oder damit planen, auf Hostels oder Privatunterkünfte auszuweichen.

⚽ „Der Fußball und die Deutschen“ überschreibt Trud.ru eine lange Analyse, die auch „Warum klappt das da in Deutschland mit dem fußballerischen Erfolg und bei uns in Russland nicht?“ heißen könnte. Als Hauptunterschied sieht Autor Sergeij Stetschkin die erfolgreiche deutsche Nachwuchsarbeit. „Bei der WM 1998 wurde Deutschland von Kroatien 3:0 geschlagen, bei der EM 2000 kam es nicht über die Gruppenphase hinaus.“ Schwerfällig und alt sei die Mannschaft gewesen, im Schnitt 31 Jahre. „Daraufhin krempelte der DFB die Ärmel hoch und stieß Reformen an.“ Das Ergebnis: jüngere Nationalspieler und eine erfolgreichere Nationalelf.

2012, so Stetschkin, hätten Deutschland und Russland sogar ein Memorandum zur Zusammenarbeit unterzeichnet, doch daraus sei nichts geworden, „und das kann man nicht den Deutschen vorwerfen.“ Was die Übertragbarkeit deutscher Nachwuchsförderung auf Russland angeht, ist er ohnehin Pessimist: Russland habe zwar in jüngster Zeit selbst einige Fußballschulen eröffnet. Doch die funktionierten nicht, weil „Lobbyarbeit, Vetternwirtschaft und Korruption auf allen Stufen der Bildungspyramide blühend gedeihen.“

⚽ Die britische Regierung ist früh dran und hat ihren Reiseratgeber für Fußballfans, die kommendes Jahr zur Weltmeisterschaft nach Russland reisen wollen, schon fertig. „Be on the Ball“ handelt umfassend und sorgfältig die wichtigen Baustellen ab: Sicherheit, Krankenversicherung, Visum. Die russische Eigenart, dass man sich bei der örtlichen Polizei registrieren muss. Dass Tickets nicht reichen, um ins Stadion zu kommen, sondern auch eine Fan-ID nötig ist. Alles knapp und nützlich, auch für Nicht-Briten. 

Lustig auch, welche Bedürfnisse die Autoren den reisenden Fußballfans unterstellen: Der ultrakurze Sprachführer am Ende des Ratgebers besteht aus gerade mal 18 Einträgen. Eins, zwei, drei, bitte, danke, guten Tag, auf Wiedersehen. Ich spreche kein Russisch, sprechen Sie Englisch? Und dann die Frage ganz zum Schluss, nicht etwa nach Essen, Bier oder Arzt, sondern, wie dieser Screenshot zeigt, nach der absoluten Grundversorgung: „Wie heißt Ihr WLAN-Passwort?“

 

kscheib russball be on the ball vocab

⚽ Vor der Fußball-Weltmeisterschaft wird der WM-Pokal schon mal auf Tour durch Russland geschickt und tingelt in zwei Etappen allerlei große Städte ab. Man kann sich dazu die extrem begeisterte Pressemitteilung durchlesen, die die FIFA dazu rausgehauen hat. Oder man liest bei The18.com eine gar nicht mal so unlustige Mischung aus Fakten und Sarkasmus zum selben Thema: „24 – Zahl der Städte, die der Pokal besuchen wird. 108 – Zahl der Pinkelpausen unterwegs.“

⚽ „Profitiert der Frauenfußball in Russland von der WM?„, fragt der Deutschlandfunk, auch wenn es im Beitrag dann nur am Rande darum geht. Wer sich aber für russische Frauen als Sportfunktionärinnen, als Führungskräfte oder einfach für Mann-Frau-Rollenbilder in Russland interessiert, kann hier den Bericht nachlesen. 

⚽ Die Entscheidung über den russischen Pokalsieger wird aller Wahrscheinlichkeit nach kommenden Mai in Wolgograd fallen. Sergej Prjadkin, immerhin Chef der russischen Fußball-Liga, lässt sich so zitieren: „Zu 99 Prozent findet das Spiel in Wolgograd statt – der Vorstand muss es nur noch genehmigen.“ Hundertprozentig fest ist das Datum der Begegnung: der 9. Mai, an dem Russland den Sieg über den Nationalsozialismus feiert.

Termin und Austragungsort passen gleich doppelt zusammen: In der Stadt, die vielen Deutschen als Stalingrad geläufiger ist, finden sich noch heute Spuren des Zweiten Weltkriegs; 2018 jährt sich der sowjetische Sieg in der Schlacht von Stalingrad zum 75. Mal. Wolgograds WM-Stadion wiederum entsteht in Sichtweite der monumentalen „Mutter Heimat“-Statue, die mit erhobenem Schwert ihre Landsleute aufruft, in den Kampf zu ziehen. Wer derzeit die Anhöhe zur „Rodina-mat“ hochsteigt, blickt genau auf die Stadionbaustelle.

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Nochmal kurz zum Deutschlandfunk: In dessen Sendung „Sport am Samstag“ habe ich ein bisschen was erzählt dazu, wo es bei der Abstimmung zwischen FIFA und russischen Organisatoren noch hakt (die Phantomtickets, ihr erinnert euch), wie sehr der russische Staat im Blick hat, wann man sich als Fan hier wo aufhält, und wie sich das anfühlt. Mehr dazu hier, der Button zum Nachhören versteckt sich in der unteren rechten Ecke des Aufmacherfotos.



Weißt Du noch, damals, in Aserbaidschan…

Manchmal, auf Reisen, glaubt man schon zu wissen, was hängenbleiben wird. Welche Eindrücke Bestand haben, welche Anekdoten man immer wieder erzählen wird. Kann sein, dass diese Ahnung sich bestätigt. Oder sie ist schon am nächsten Tag überholt, weil man noch so viel mehr erlebt, das sich einprägt.

Weißt Du noch, damals, in Aserbaidschan, was das für ein Tamtam war mit dem Visum? Seitenweise Formularkram, seltsame Transaktionen per Western Union. Lassen die uns rein, obwohl wir Journalisten sind? Obwohl wir letztes Jahr in Armenien waren? Hast Du auch die Geschichte gesehen von dem Franzosen, den sie am Flughafen einfach wieder zurückgeschickt haben?

Aserbaidschan Bibi-Heybat-Moschee

Im Land dann plötzlich das Gegenteil, das große Willkommen: Wie in der Bibi-Heybat-Moschee die eine Frau mich an der Hand genommen hat, sich mitten unter diese smaragdgrüne Kuppel gekniet hat, mich mit runtergezogen und „Molitwa“ gesagt hat? Wie der Aufpasser meinte, nee, hier keine Fotos, aber ihr könnt gerne mal in den Gebetsraum für Männer gucken, Du gehst rein, Du guckst hier von der Türschwelle aus, ach komm, ich zeig euch auch noch den für Frauen, der wird eh gerade renoviert, da könnt ihr auch Fotos machen. Schön hier? Schön. Da, nehmt noch ein paar Bonbons mit. Frohes Nourouz!

Weißt Du noch, damals, in Aserbaidschan, wie wir zu den Schlammvulkanen wollten, aber unserem Fahrer das nach einem Tag Dauerregen zu riskant war (oder sein Auto einfach zu weiß)? Wie er uns ein Taxi rangeholt hat, roter Lada, die Sitze natürlich mit Häkelüberzug und der Fahrer mit einer Strategie: Wenn die Straße (im weitesten Sinne, Piste oder Suhle trifft es besser) glitschig und aufgeweicht ist, fahren wir halt querfeldein.

Durch die wilde Müllkippe, wo Kühe Plastiktüten im Mund tragen, dann immer an den Strommasten entlang, über Feld, Steine, Gestrüpp. Schräg herunter in die Gräben, um nicht umzukippen. Und gegen die Schlammvariante von Aquaplaning (Lutoplaning?) reißt der Fahrer einfach das Lenkrad alle paar Sekunden von scharf links nach scharf rechts, was nicht funktionieren sollte, aber funktioniert. Respekt dem Manne, der seinen Lada fährt, als hätte er Allradantrieb! Singt ihm Lieder! Und haltet euch fest auf dem Rückweg, wo er dieselbe Heldenleistung noch einmal vollbringt – diesmal aber einhändig, weil die andere Hand eine Zigarette hält.

Aserbaidschan Schlammvulkane Lada

Weißt Du noch, damals, in Aserbaidschan, dieses Bergdorf im Großen Kaukasus? Die schmalen Gassen, die Schneeschmelze – und der verdammt schmerzhafte Moment, wenn beides zusammen einem die Füße unterm Hintern wegschlägt und die Hand danach nicht mehr schön linear eine Verlängerung des Armes bildet, sonder das Ganze eher versetzt aussieht, wie ein Inbusschlüssel? Die Eskorte zur örtlichen Heilerin, die einen Blick drauf wirft und sagt, das fass ich nicht an, geh zum Arzt – aber immerhin ein Taschentuch voll Schnee drumknotet? Wie das Krankenhaus in der nächsten Stadt – frohes Nouruz! – leider zu ist, der Arzt aber zuhause auf seiner Terrasse zwischen Gartenstühlen und Kartoffelsack einen Blick auf die Hand wirft, sie abtastet, das Gelenk – zack – wieder einrenkt, lautes deutsches Fluchen ignoriert und lobt: Tapfer, gar nicht geweint!

Wie wir daraufhin ein paar Häuser weiter zum Tee eingeladen sind, was heißt: Tee, Brot, kleine Oliven, Rosinenreis, duftendes Lamm mit Aprikose, Salat, Ayran mit Kräutern. Dazu Gespräche auf Russisch, Schäkern mit den zwei wuseligen kleinen Kindern und eine Führung durchs Haus: „Mein Vater war Architekt, und zur Sowjetzeit musste alles, was man baute, gleich aussehen.“ Das hat er bei seinem eigenen Haus so entschlossen kompensiert, dass dessen riesiges Wohnzimmer nun also eine Freitreppe hat, blaurotgrün blinkende Lichtinstallationen unter der Decke und einen Springbrunnen.

Aserbaidschan Festessen

Später, abends in Baku, werden wir noch eine ganze Reihe Ärzte kennenlernen, die sich uns Zugereisten auf Englisch als „Doctor + Vorname“ vorstellen. Doctor Ruslan, Doctor Tanya und Doctor Katya werden noch zwei Brüche im Arm finden, dazu einen Orthopäden, der sie richtet, und eine Anästhesistin, die sagt: „Normal dauert das fünf Minuten, bei uns sogar nur drei.“ Es wird, nicht unbedingt in dieser Reihenfolge, Frotzeleien zwischen einem aserbaidschanischen Arzt und seiner armenischen Assistentin geben, eine Gipsschiene, Wartezimmer-Fernsehen, in dem gerade ein Koch Parmesanstücke mit Schokolade überzieht, Blaulicht, Propofol und die Frage, ob das mit den Flüchtlingen in Deutschland wirklich so schlimm ist oder wieder nur russische Fernsehpropaganda. Aber das kommt später. Erst mal gehen wir aus dem Springbrunnenzimmer zurück in die Küche unserer Gastgeber und setzen uns wieder an den Tisch. Baklava kann man auch einhändig essen. Noch einen Tee? Frohes Nourouz!

Tür auf, einer raus, einer rein

Attest Visum Moskau Skoromed

Eine Dönerbude, daneben eine Stahltür ohne Türschild. Durch den neonbeleuchteten Gang, vorbei an dem Verschlag, in dem man Schuhe reparieren lassen kann. Im Lösungsmittelgeruch die Treppe rauf: Zweiter Stock, Anmeldung. Hallo, ich brauche ein Gesundheitszeugnis für ein Visum. Ja, Russlandvisum. Ja, auch einen AIDS-Test. Pass und Meldebescheinigung hier, bitte – da hinten steht mein Name auf Kyrillisch.

Und jetzt? Ah, ein Laufzettel. Die Ärzte warten in ihren Räumen, auf dem Gang davor stehen die Kunden, um sich begutachten zu lassen und dann eine Bescheinigung zu bekommen. Rein in die Plastik-Schuhüberzüge und los.

Vierter Stock, Zimmer vier

– „Guten Tag.“
– „Guten Tag. Die Jacke bitte ausziehen.“
– (…)
– „Sie stellen sich da rein, und dann nach links.“
– (…)
– „Nach links.“
– „Ich steh doch links.“
– „Nach links drehen. Und dann (unverständliche Verben im Imperativ)!“
– „Ich weiß nicht, was das heißt.“

Die Frau im blauen Kittel grinst und stellt sich so vor die Tür der Röntgenkabine, dass ich sie sehen kann. Sie guckt mich an, atmet tief ein und hält dann die Luft an. Ah, danke. Alles klar. Die Röntgenmaschine röntgt den Oberkörper, ich atme aus und komme wieder raus.

– „Sind Sie verheiratet?“
– „Ja.“
– „Hatten Sie schon mal Tuberkulose?“
– „Nein.“
– „Okay, fertig.“

Ein Jahr lang gelten die Visa für uns ausländische Mitarbeiter der Moscow Times, und die einzige Konstante von einem Visum zum nächsten ist, dass sich die Vorgaben und Abläufe jedes Mal ändern. Bisher zum Beispiel musste ich selber mich immer nur um den AIDS-Test kümmern, den Rest hat die Personalabteilung organisiert. Warum das diesmal anders ist? „Die Regeln haben sich geändert.“ Das ist fast so schön wie die Rundmail neulich: „Die Einladungsschreiben für eure neuen Visa verzögern sich wegen einer Verspätung.“

Auf der To-do-Liste, gemailt von der Personalabteilung zusammen mit den Adressen drei autorisierter Kliniken, stehen Krankheiten, die nach anderen Zeiten klingen. Tuberkulose. Syphillis. Lepra, ganz biblisch. Eine Freundin übersetzt die Testliste ins Englische, ich erkenne obskure Begriffe aus dem „Medical Love Song“ von Monty Python. „Weicher Schlanker“ – klingt nach Wiener Kaffeehausspezialität. Weitere Gründe, eventuell kein Russland-Visum zu bekommen: Chlamydien und psychische Probleme.

Vierter Stock, Zimmer neun

– „Sie sind aus Deutschland? Ich hatte in der Schule Deutsch, Moment, ein Wort weiß ich noch: ‚der Zug‘!“
– „Ah, ja, toll, ‚der Zug‘. Und ‚der Arzt‘ sicher auch, oder?“
– „Nein, das Wort kenne ich nicht.“
– „Das heißt врач. Doktor. Wie Sie.“
– „Hm. Haben Sie Allergien?“
– „Ja.“
– „Gegen was?“
– „Staub.“
– „Was für Staub?“
– „Hausgemachter.“ (Was weiß ich, wie „Hausstaub“ auf Russisch heißt. Aber „hausgemacht“, damaschni, das Wort steht hier auf jeder Speisekarte. Also: einmal Stauballergie nach Hausmacherart.)
– „Hausgemacht? Also wie hier im Zimmer?“
– „Ja.“
– „Okay, ich schreibe mal ‚keine Allergien‘. Zeigen Sie mal Ihre Hände.“
– (…)
– „Hände umdrehen.“
– (…)
– „Zeigen Sie mal Ihren Bauch.“
– (…)
– „Zeigen Sie mal Ihren Rücken.“
– (…)
– „Hatten Sie schon mal Hautkrankheiten?“
– (Hatte das nicht jeder? Pubertäre Ekzeme in den Armbeugen. Hitzepickel. Zählen Windpocken?) „Nein.“
– „Okay. Sie schreiben hier Ihren Namen hin, ihr Geburtsdatum, das heutige Datum. Und dann hier unterschreiben.“

Das Zögern bei „Arzt“ da gerade, hieß das jetzt, dass sie gar keine Ärztin ist? Edel geschminkt, weißer Kittel – kann auch eine Kosmetikerin gewesen sein, Händezeigenlassen gehört ja nun zu beiden Berufsbildern. Und so ein Türschild, auf dem „Dermatovenerologe“ steht, ist schnell angefertigt. Vielleicht sogar bei dem Schuster im Erdgeschoss, nebenberuflich.

Andererseits: Macht’s einen Unterschied, so lange ich hinterher meine autorisierte Bescheinigung einer autorisierten Klinik bekomme? Immerhin kostet der Spaß hier bloß 1500 Rubel, also 20 Euro. Beim European Medical Center, wo die Ärzte garantiert Ärzte sind und fließend mehrsprachig noch dazu, sollten dieselben Diagnosen 300 Dollar kosten.

Zweiter Stock, Zimmer sechs

– „Guten Tag.“
– „Guten Tag.“
– „Bitte da hin.“
– (…)
– „Einmal eine Faust machen.“
– (…)
– „Festhalten.“
– (…)
– „Moment noch, das Pflaster. So. Das ist alles.“

Das Röhrchen mit dem Blut bleibt im Zimmer, die blauen Plastikschluppen kommen in den Mülleimer an der Rezeption. Was bleibt? Drei Zimmer, drei Frauen – eine blau bekittelt, eine weiß, eine türkis. Eine Bescheinigung, hoffentlich, in ein paar Tagen.

Über die Strahlendosis dieser Röntgenkiste denke ich jetzt jedenfalls nicht nach, sondern lieber darüber, was an diesem Vormittag wohl der Test auf psychische Probleme war. Die Frage nach der Ehe? (Fliegt raus, wer in Tränen ausbricht, hysterisch lacht oder ein Foto von Putin aus der Handtasche holt?). Oder einfach der ganze Prozess?

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Ein Verwaltungsakt

Nummern ziehen

1. Durch den Haupteingang ins Gebäude rein. Kurz ratlos umgucken, schon steht ein Sicherheitsmann auf und kommt rüber: „Sie sprechen Englisch? Dann bitte dort hinein.“

2. Hinter der Tür wartet eine ältere Dame, freundlich und tatsächlich englischsprachig. Sie erklärt: Aus dem Gebäude wieder raus. Links rum, Eingang Nummer zwei. Ob wir unsere Pässe dabei haben? Gut, dann bis gleich.

3. Eingang Nummer zwei führt zu weiteren Sicherheitsleuten, einer gelangweilten Garderobiere und einigen Kabuffs mit verdunkelten Scheiben. Über den Türen leuchten Nummern. Wir ziehen jeder eine und warten.

4. Als die Nummer blinkt, ins Kabuff rein. Pass? Hier, bitte. Karte ausgefüllt? Nein, was für eine Karte? Die Frau verschwindet, kommt wieder mit einem Kärtchen in Urlaubspostgröße. Vorname, Nachname, Adresse, Staatsangehörigkeit. Aber auch: Ausbildung? Genauere Fachrichtung? Arbeitgeber? Einiges ausgefüllt, manches freigelassen. Die Frau guckt nicht mal drauf, tauscht aber das Kartenformular gegen ein Plastikkärtchen.

5. Zurück zum Haupteingang, diesmal direkt zur englischsprachigen Frau. Guten Tag, wie haben hier jetzt zwei Plastikkärtchen. Und nun? Sie läuft mit bis zur Sicherheitsschleuse, zeigt, wo man sie mit der Karte aufpiepst. Und durch.

6. Jacke abgeben, Rucksack auch. Dann weiter zur verglasten Kabine an der Treppe. Plastikkärtchen zeigen. Pass zeigen. Die Frau in der Kabine blättert, bis sie das Visum findet. Füllt einen schmalen Papierstreifen aus und reicht ihn hinaus.

7. Drin!

8. Später, auf dem Weg raus, zur Kabine gegenüber der ersten. Plastikkärtchen abgeben reicht nicht, der Papierstreifen vom Einlass muss es sein. Linke Hosentasche, rechte Hosentasche. Bitteschön. Stempel drauf. Kärtchen und Streifen bleiben bei der Kabinenfrau.

9. Jetzt nur noch rauspiepsen an der Schleuse. Wie, Sie haben kein Plastikkärtchen? Aber wie sind Sie denn dann…ach, Ausländer? Na, ich mach Ihnen schnell auf. Hier entlang. Schönen Tag noch.

(Was gab’s drinnen, was so ein Tamtam rechtfertigt? Akkreditierung für den direkten Zutritt zum Kreml, kostenlose Krankenversicherung, neue Staatsangehörigkeit? Morgen mehr.)

Die zwölfte China-Woche in Links

Eine Woche mit vielen lesenswerten Texten mit Nobelpreis-Bezug. Einer davon ist ein massiver Scoop der Pekinger AP-Redaktion.

AP Exclusive: China Nobel wife speaks on detention – schon die Umstände, unter denen es AP gelang, mit Liu Xia zu sprechen, sind abenteuerlich. Die Frau von Bürgerrechtler Liu Xiaobo, der derzeit eine elfjährige Haftstrafe absitzt, erzählte, wie sich ihr Leben verändert hat, seit ihrem Mann der Friedensnobelpreis zugesprochen wurde: „I really never imagined that after he won, I would not be able to leave my home. This is too absurd. I think Kafka could not have written anything more absurd and unbelievable than this.“

Beijing approves 72-hour visa waiver for tourists – sehr nützliche Regelung, die sicher einiges mehr an Tourismus-Geld nach Peking bringen wird. „The policy is aimed at making Beijing more accessible to the world and is expected to attract more overseas travelers.“ Eine nützliche Regelung, wie gesagt – es sei denn, man kommt aus einem bestimmten europäischen Land:

China Just Snubbed Norway In The Most Petty Way Possible – für Norweger gilt die neue Visums-Regel nicht. Und wer da nun einen Zusammenhang zum Friedensnobelpreis für Liu Xiaobo vermutet, liegt sicher nicht falsch. „One official the FT spoke to said that certain countries that had not been included were left off as citizens or government are ‚of low-quality‘ or ‚badly behaved‘.“

China, EU conclude Year of Intercultural Dialogue – aus purer Praktikumsfreude hier eingebaut: ein Text von Xinhua, zu dem ich Zitate zugeliefert habe. Hat großen Spaß gemacht und die Lust geweckt, wieder mehr auf Englisch zu schreiben. „China and the EU will pay particular attention to (…) the development of online media.“

Censorship is a must, says China’s Nobel winner – seit Mo Yan als Träger des Literaturnobelpreises 2012 verkündet wurde, gibt es Streit um die Auszeichnung. Ist er zu sehr auf Linie der chinesischen Regierung? Sollte man Kunst von Politik trennen? Kann man das überhaupt? Nun positioniert er sich bei einer Pressekonferenz in Stockholm als Verteidiger der Zensur: „Mo likened it to the thorough security procedures he was subjected to as he traveled to Stockholm.“

Notwendiges Übel stößt übel auf – die Kritik an Mo Yan und seiner Äußerung hat die taz gesammelt: „ ‚Wir alle sollten uns fragen, ob ein solcher Schriftsteller den höchsten Literaturpreis der Welt verdient hat‘, sagte der Direktor des Hongkonger PEN-Zentrums unabhängiger chinesischer Schriftsteller, Patrick Poon.“

What Bart Simpson Might Say to Mo Yan – Nailene Chou Wiest war eine der interessantesten Referentinnen in unseren Uni-Wochen. Hier zieht sie eine Parallele zwischen zwei Menschen, in deren Leben das Abschreiben eine wichtige Rolle gespielt hat. „Mo Yan often writes about the world in which ordinary people have to deal with capricious authority, but he has yet to explore how he embodies the paradox and the meaning of being entrapped in it.“