Die Bielefeldverschwörung ist inzwischen ja so verbreitet, dass quasi keine Radiomoderation mehr ohne auskommt. Ach Bielefeld, haha, gibt’s das also doch? Am Wochenende war ich in Tula, zwei Zugstunden von Moskau, und bin dabei zu der Erkenntnis gekommen, dass es auch Tula möglicherweise nicht wirklich gibt.
Oder genauer: Dass Tula keine Stadt ist, sondern eine Simulation, die prüfen soll, wie gelassen man russischen Absurditäten so begegnet. Ein Ort, wo immer wieder Dinge anders laufen, als es der westlich sozialisierte, bestenfalls an die Metropole Moskau gewohnte Menschenverstand vermuten lässt. Und wo dann dezent protokolliert wird, wo auf der Skala zwischen „Die haben doch den Schuss nicht gehört“ und „Hach, Russland. Immer für eine Überraschung gut“ die Reaktion des Besuchs liegt.
Das Hotel
Gute Online-Bewertungen, freundliche Rezeptionistin, alles tiptopsauber, das Zimmer so groß, dass man eine Schlafcouch reinstellen und zu viert dort übernachten könnte. Und dann noch die Aussicht auf so ein richtig schönes Hotelfrühstück. Nur, dass halt der Lift kaputt ist (kein Schild, aber nach einigen Minuten Handygucken im Morgentran merkt man es ja irgendwann) und keine Treppe in Sicht. Aber gut, das Zimmermädchen da hinten hat einen Wagen, also wird sie doch sicher… voilà: Personalaufzug!
Unten dann eine Mischung aus Russischem (Kascha, Blini, Sirniki) und wildem, international gemeintem Mix (Chocolate Chip Cookies, Bratwürste, Schafskäse mit Oliven). Für den Alibisalat bastle ich mir ein Dressing, schließlich steht hier der übliche Ständer mit einer hellen und einer dunklen Flüssigkeit. Hinsetzen, probieren, bäh! „Entschuldigung, aber ich glaube, da ist ein Fehler passiert. In den Flaschen da, das ist nicht Öl und Balsamico, sondern Öl und Sojasauce.“ – „Ja, stimmt, das ist Sojasauce. Das wissen wir.“ – „Hm, okay, ich glaube, viele Gäste würden sich über ein Schildchen freuen.“ – „Ja? Okay, machen wir Schilder dran.“
Mit demselben Impuls, der andere im Flugzeug Tomatensaft trinken lässt, frage ich noch, ob der leere Teller mit Eggs Benedict wieder aufgefüllt wird oder ich zu spät dran bin. Nein nein, fünf Minuten! Schon nach drei steht eine freundliche Kellnerin am Tisch und bringt eine Untertasse, darauf ein Toast, darauf eine halbe Scheibe Schinken, darauf ein Ei, darauf ein Klecks Hollandaise, natürlich mit Haut, denn das hier ist: kalt. Nicht „vor zehn Minuten zubereitet und dann abgekühlt“, sondern „lieber Gast, hier für dich auf den Tisch, frisch aus dem Kühlschrank“.
Serviert mit demselben großäugigen Enthusiasmus, mit dem einem Kinder Gemaltes vorlegen und warten, dass man darin den Walfisch/das Sturmtief/die Schokotorte erkennt. Und der es unmöglich macht, nicht mindestens ein paar Anstandsbissen kaltes Ei mit schnittfester Sauce zu essen.
Der Kreml
Ja, auch andere Städte als Moskau haben einen, und der von Tula ist klein und in der Wintersonne wirklich ausnehmend schön. Man geht einfach durch den Torbogen und ist auf dem Gelände. Angeblich soll es hier aber auch ein Museum geben, ach, da ist ein Schild zum Ticketverkauf. Klug haben sie das gemacht mit dem Ticketkiosk am Ende der Reihe kleiner Läden, alle offen, alle einladend. Samoware, Lebkuchen, Schnitzereien.
Nur der Ticketladen ist natürlich geschlossen, wohl dauerhaft, wie der Blick durchs Fenster zeigt: ein leerer Stuhl mit leerem Tisch und leeren Regalen. Ach so, und da links, auf einem zweiten Stuhl: eine Frau, die diesen leeren Laden bewacht. Weil in Russland jede Rolltreppe, jede Schranke und jedes Garagentor halt jemanden braucht, der sie hütet. An die Scheibe klopfen also? Oder statt Museum einfach in die Wintersonne setzen und was lesen? Einfache Entscheidung.
Der Bahnhof
Der Bahnhof von Tula ist der Beweis, dass es Russland schafft, parallel in verschiedenen Jahrhunderten zu existieren. Im für jeden zugänglichen Wartesaal gibt es hohe Decken, wallende Gardinen, kränkliche Grünpflanzen und gleich mehrere Steckdosen mit dem Schild: „Gadget-Aufladepunkt“. Ja, okay, daneben hängt ein Disclaimer, der ein ganzes A4-Blatt füllt (Spannungsschwankungen, Haftungsausschlüsse), aber hey: Sowas müssen deutsche Bahnhöfe erst mal nachmachen.
Die Toiletten sichern unterdessen zwei Arbeitsplätze, den der Putzfrau und den der Kartenverkäuferin. In einer Art Vorhof, umringt von Deko-Zaun und weiteren Grünpflanzen, sitzt sie in einer Kabine, nimmt die 20 Rubel Gebühr entgegen und händigt dafür eine Quittung aus. Dann zeigt sie vor sich auf die kleine Fensterbank ihres Häuschens, in die ein Kugelschreiber aufrecht hineingerammt wurde und so eine Rolle tiefgraues, einlagiges Klopapier festhält. „Nehmen Sie sich was mit,“ sagt die Frau. Was sie nicht sagt: Die Toiletten sind allesamt von der Loch-im-Boden-Variante.
Gadget-Ladepunkt: 2016. Toiletten: 1916, bestenfalls. Die haben doch den… äh… hach, Russland. Immer für eine Überraschung gut.
2 Gedanken zu „Tula, das Bielefeld von Russland“