…sagt doch über den Charakter gar nichts aus

Guerlain Mief 
Zu den großen Freuden des In-Russland-Lebens gehört der Aha-Moment, wenn sich aus fremd wirkenden kyrillischen Buchstaben ein bekanntes Wort erschließt.

Besonders schön sind dabei Lehnwörter, gerne aus dem Französischen: Lecker, diese Pistazienpralinen von Комильфо => Komilfo => Comme il faut. Oh, zum Tag der Frau ein Kosmetikgutschein von Рив Гош => Riw Gosch => Rive Gauche, wäre doch nicht nötig gewesen. Also, wirklich nicht.

Und dann heute im GUM, eine freundliche Sprühfrau, die Papierstreifchen mit dem neuen Duft von Guerlain verteilt. Die Pappkameradin neben ihr hält ein Schild hoch, mittig ein groß geschriebenes Wort: МИФ, gesprochen [mif]. Was, okay, das russische Wort für „Mythos“ ist, und der Slogan gehört offenbar zu einem Parfum namens „L’Homme Idéal“, das nicht nur in Russland mit dem Satz „Der perfekte Mann – Mythos oder Wirklichkeit?“ beworben wird.

Mein Einwandererhirn merkt sich das neue Guerlain-Produkt dennoch bis auf weiteres unter dem Namen „Mief“. Und verdrängt schamhaft den kurzen Moment, in dem es glaubte, eine große Parfum-Marke habe ihr neues Angebot tatsächlich „MILF“ genannt.

Mosfilm und das alte Moskau (Berlin, Paris, etc.)

Mosfilm Dinosaurier 

Wenn ein Dinosaurier einen Rolls-Royce bewacht, der seinerseits schon mal ein Postwagen war, dann ist das entweder Kino oder zumindest sowas Ähnliches. In diesem Fall heißt „sowas Ähnliches“, dass wir gerade in einer Gruppe über das Gelände von Mosfilm laufen, der Mutter der sowjetischen (und inzwischen russischen) Filmstudios.

Hier ist, noch ohne Ton, der Panzerkreuzer Potemkin entstanden. Hier gibt es ein Filmset, das je nach Anspruch das historische Moskau, das historische Paris oder auch gern das historische Berlin darstellt, bei konstantem Kopfsteinpflaster. Spektakuläre Perücken, Requisiten für jede Epoche, Masken, Kostüme, dazu Räume, in denen gerade Dreharbeiten vorbereitet werden und darum Fotoverbot herrscht.

So sehenswert die Ausstellungsstücke aus fast 100 Jahren Filmgeschichte sind, Glamour darf man hier keinen erwarten, im Gegenteil, die ganze Präsentation ist eher lieblos. Eine Halle voller Oldtimer, darunter Vorkriegsmodelle, alle mit ihren eigenen, abenteuerlichen Geschichten – aber so eng geparkt, mit Pollern umstellt und von Gegenlicht beschienen, dass man sie kaum fotografieren kann.

Vielleicht können die Mosfilm-Kulissenbauer, die von Stadtwohnung bis Palast so ziemlich alles zusammendübeln können, ja mal eine richtige Ausstellungshalle bauen? Bis dahin lohnt sich der Besuch wegen der Geschichten, die man auf der Tour so erzählt bekommt – und für die Gelegenheit, einmal durchs historische Moskau, Berlin und Paris zu gehen, während der Wind die Schaumstoff-Glocken im Turm der Kulissenkirche schaukeln lässt.

Moscow Blogger Meet-Up

Drei Wochen nicht in Moskau, das ist wie kleine Semesterferien, einschließlich dem Gefühl bei der Rückkehr, hier allmählich wohl wirklich dazuzugehören. Freunde zufällig im Supermarkt treffen, in der Metro eine Abkürzung kennen, beim Trinkwasserbestellen eine Kundennummer haben und bei der Chorprobe die Liste anschaulicher, wenn auch nicht unbedingt schmeichelhafter Dirigentenkommentare fortschreiben: „Ihr solltet wie Engel klingen, aber ihr klingt wie ein Zahnarztbohrer.“ Echt, Soprane! Dem Alt wäre das nie passiert.

Und dann die Einladung von Polly, der wahrscheinlich fleißigsten Bloggerin der Stadt, die nebenbei gerade noch eine Reisezeitschrift auf die Beine gestellt hat: Komm, wir machen mal ein Bloggertreffen. Moscow Blogger Meet-Up, im Re:Forma, einem der vielen Moskauer Anticafés.

home-office-336373_1280Wir sind acht, alle Frauen, alle bis auf eine bloggen auf Englisch. Und es ist, von Anfang an, genau richtig. „Ach, Du bist doch die mit ihrem eigenen Oligarchen!“ – „Von Deinem Blog hab ich mir die ganzen Einkaufszettel-Vorlagen runtergeladen, eine große Hilfe.“ – „Wirkt das nur so oder bist Du ständig auf Reisen?“

Kuchen und Linktipps. Restauranthinweise und Ausflugspläne. Unverhoffte gemeinsame Bekannte und Vokabeln quer durch die Sprachen („Sagt ihr auf Deutsch wirklich ‚Blümchensex‘?“). Ich glaube, wir haben zwei Stunden am Stück durchgequatscht, oft auch gleichzeitig.

Was jetzt auch heißt, dass der schon ewig halbfertige Blogpost mit Moskauer Blog-Tipps nun endgültig keinen Grund mehr hat, weiter aufgeschoben zu werden, sondern hier noch diesen Monat veröffentlicht wird. Echt jetzt.

Also, Jessica, Sarah, Lisa, Anna, Polly, Kate und Jennifer: Danke für den Anfang. Zu euch gehör ich gerne.

(Foto: Pixabay)

Keine „Netzhaut“ mehr in der WAZ

Im letzten halben Jahr hat vieles neu begonnen, jetzt geht mal was zu Ende: Die WAZ hat ihre Wochenendbeilage umgebaut und dabei ein paar Kolumnen abgeschafft. Dazu gehört auch die „Netzhaut“, in der ich seit ein paar Jahren fürs Print-Publikum über allerlei Internet-Themen geschrieben habe.

Das hat manchmal zu inneren Motzmonologen (Hab kein Thema! Hab zu viele Themen! Text zu lang! Text zu kurz!) geführt, war aber ansonsten immer eine Freude. Die Themen komplett frei wählen können und von zwei klugen, umsichtigen Kollegen redigiert und betreut werden – doppelter Luxus. Fürs Kolumnenbild vom grandiosen Jamiri gezeichnet werden, der auch kleine Extrawünsche („Ich war furchtbar unentspannt, kannst Du die Mundwinkel nicht noch ein bisschen hochzeichnen?“) erfüllt – auch toll.

Die erste Version des Kommentarbildes von Jamiri.
Die erste Version des Kommentarbildes von Jamiri.
Vor allem aber war die „Netzhaut“, als sie mir 2010 in die Hände fiel, schon ein doppeltes Erbstück: Aus den Händen von Katharina Borchert ging sie erst an Marc Hippler, dann an mich. Von beiden bin ich, menschlich wie fachlich, schon lange ein Fan – Katharina war einer der Gründe, 2008 zur WAZ zu gehen. Marc war schon als Volo ein Sparringspartner, der an vielen Tagen meine Motivation oben gehalten hat. So ein Erbe wärmt ganz ungemein.

Die Erbtante ist inzwischen beim Spiegel, der Erbonkel bei der RP und ich in Russland. Und das Erbgut? Ideen, aus denen bisher eine „Netzhaut“-Kolumne geworden wäre, werden in Zukunft Einträge hier im Blog. Dann hat sich auch das Leiden an der Textlänge erledigt.

Bei Flickr wird aus Einkaufszetteln Kleinstkunst

Moleskine_Grillabend_Einkaufszettel_IMG_8200

Nürnberger Bratwürstchen, dicke Rippe, Chicken Wings, Rumpsteak, Schweinesteak. Es war die Einkaufszettel gewordene Fleischeslust, die Kathrin Jebsen-Marwedel im Mai vor einem Supermarkt fand. Alles erledigt, brav durchgestrichen, wie auch Kräuterbaguette und Eisbergsalat. Allerdings: Komplett war die Liste dann doch nicht abgearbeitet: kein Strich durch „Deo, Holger“, keiner durch „Tzaziki“.

Was für viele Einkäufer lästiger Bodensatz im Einkaufswagen ist, hat für die Grafik-Designerin Potential. Zusammen mit Jan Uhing, einem befreundeten Illustrator, hat sie deshalb eine Flickr-Gruppe gegründet. Hier zeichnen Menschen mit Fantasie unter dem Motto „Who lost this shopping list?“ die Geschichten hinter den Zettelfunden.

Who Lost this Receipt or Shopping List -Group.

Geschichten wie die von Hannelore, die für ein Abendessen mit ihrem ersten Online-Date einkauft. Von Traudel und ihrem heimlich für die WM gekauften Fernseher. Von Jonna und ihrem Papa, die hinter dem Rücken der Veggie-Mama sonntags volle Kanone Gulasch futtern. Von Helga, Heinz und den Rosen zum Hochzeitstag. Und eben die von Holger, Gastgeber eines Grillabends, dessen Gäste sich überraschend flott wieder verdrückten, wegen Deo-losem Holgerschweißmief.

Ein Detail, eine ungewöhnliche Kombination – alles kann den Impuls für eine illustrierte Geschichte geben. „Ich habe auch schon Einkaufswagen umgeparkt, weil ich zehn Wagen weiter vorne in der Einkaufswagenstation einen Einkaufszettel entdeckt habe“, bekennt Kathrin Jebsen-Marwedel.

Dass die Auseinandersetzung mit Einkaufslisten nicht nur die Kreativität anregt, sondern auch das Vokabular beeinfluss, merkt man spätestens, wenn man sie nach Tricks fragt, um ergiebige Zettel zu finden: „Ich glaube“, sagt sie dann, „wir in der Gruppe haben einen Scannerblick für Einkaufszettel entwickelt“.

10 07 2014

Moskauer Warenkorb, September 2014

Perekrestok Moskau Äpfel 

Der zweite Warenkorb-Monat beginnt mit einer neuen Vokabel: отсутствует. Etwas fehlt, bedeutet das wörtlich, sinngemäß passt „nicht vorhanden“ oder „nicht auf Lager“, Hauptsache Verneinung.

Zucchini nicht auf LagerAls kleine rosa Grafik klebt dieses Wort beim Online-Lebensmittelhändler Utkonos neuerdings auf vielen Produkten, die ich mir beim Ausgangs-Korb im August gebookmarkt habe. Trotzdem hat sich der Preis im Vergleich zum August verändert – also vielleicht nur ein paar Tage Lieferengpass? Die hypothetischen Zucchini und Auberginen dürfen erst mal im Korb bleiben.

Im echten Supermarkt ist das Ganze subtiler: Die Lücken im Regal, von denen so viele Fotos online kursieren, hat unsere Perekrestok-Filiale nicht. Übers Angebot sagt das allerdings nichts aus, höchstens über geschickte Regalvollräumer.

So erkennt man erst auf den zweiten Blick, dass plötzlich acht Becher russischer Frischkäse im Kühlregal nebeneinander stehen. Gleiche Marke, gleiche Sorte. Dafür kein Brie, nirgends – ach doch: Da oben, die zwei Sorten, bei denen der Käse in einer flachen Konservendose verpackt ist, die dann wiederum in einem Kartönchen steckt. Ein kostbares Gut.

Pseudo-Bio-JoghurtEin besonders ärgerlicher Platzhalter ist das, was da als Bio-Naturjoghurt in der Milchtheke steht. Die Zusatzstoffe in ihm (E 1422, E 1442) kennt man sonst vor allem aus Fertiggerichten, die sich besonders lange halten sollen, Gelatine ist auch drin. Sicherheitshalber sind die Viererpacks dann auch direkt so bedruckt, dass der Käufer das Kleingedruckte nur lesen kann, wenn er die Becher auseinanderknickt.

Kein Wunder, dass das Zeug nur die Hälfte kostet (17,30 Rubel statt 37,60 für 100 Gramm). Trotzdem: Was nur gleich heißt, aber nicht vergleichbar ist, fliegt aus dem Korb. Bei der restlichen Liste im Supermarkt ergibt der Vergleich keinen einheitlichen Trend: Manches ist billiger geworden, manches teurer – vor allem der Käse.

Möhren für 17,90 Rubel/Kilo (August: 29)
Tomaten für 44 Rubel/Kilo (August: 39)
Rote Paprika für 189 Rubel/Kilo (August: 44,50)
Weißkohl für 9,90 Rubel/Kilo (August: 10)
Äpfel für 32 Rubel/Kilo (August: 44,50)
Birnen für 129 Rubel/Kilo (August: 69)

Milch (2,5%) für 56,99 Rubel/Liter (August: 63,44)
Butter für 37,22 Rubel/100g (August: 46,50)
Brie für 111,20 Rubel/100g (August: 97,50)
Parmesan für 232,67 Rubel/100g (August: 159,50)

Hähnchenbrust für 195 Rubel/Kilo (August: 185)
Schweinekotelett für 384 Rubel/Kilo (August: 406)

Im Schnitt ist mein Supermarkt-Einkauf im Vergleich zum vorigen Monat 32,24 Prozent teurer geworden. Schuld ist daran vor allem die rote Paprika, deren Preis jetzt mehr als 300 Prozent höher ist. Ohne sie wäre der gesamte Einkauf nur 5,65 Prozent teurer.

Und so ist die Preisentwicklung beim Online-Händler Utkonos:

Kartoffeln für 21,50 Rubel/Kilo (August: 28)
Zwiebeln für 21,50 Rubel/Kilo (August: 34)
Gurken für 99,90 Rubel/Kilo (August: 109)
Zucchini für 36 Rubel/Kilo (August: 26) (nicht auf Lager)
Auberginen für 178 Rubel/Kilo (August: 145) (nicht auf Lager)
Rote Bete für 19 Rubel/Kilo (August: 17)
Eisbergsalat für 148 Rubel/Stück (August: 75) (nicht auf Lager)
Kohlrabi für 188 Rubel/Kilo (August: 85) (nicht auf Lager)

Nektarinen für 117 Rubel/Kilo (August: 117) (nicht auf Lager)
Zitronen für 139 Rubel/Kilo (August: 139) (nicht auf Lager)
Papaya für 417 Rubel/Kilo (August: 415) (nicht auf Lager)
Mango für 378 Rubel/Kilo (August: 330) (nicht auf Lager)
Bananen für 57,50 Rubel/Kilo (August: 47)
Orangen für 75,00 Rubel/Kilo (August: 85)
Grapefruit für 99,50 Rubel/Kilo (August: 82)
Kiwi für 225 Rubel/Kilo (August: 229)

Milch für 66,11 Rubel/Liter (August: 66,10)
Butter für 49,89 Rubel/100 g (August: 49,88)

Graubrot, geschnitten, für 79,06 Rubel/Kilo (August: 76,56)
Toastbrot für 82,40 Rubel/Kilo (August: 79,80)

Rinderhack für 412 Rubel/Kilo (August: 412)
Ganzes Hähnchen für 150 Rubel/Kilo (August: 150)
Durchwachsener Speck für 650 Rubel/Kilo (August: 650)

Kabeljau (TK) für 228 Rubel/Kilo (August: 228)
Lachssteak (TK) für 640 Rubel/Kilo (August: 576)

Hier gehen die Preise im September im Vergleich zum August ebenfalls nach oben, allerdings bloß um 11,44 Prozent. Und auch hier gibt kommen die Preistreiber aus der Gemüsetheke: Eisbergsalat (97,33 Prozent) und Kohlrabi (121,18).

Was heißt das alles, und was heißt es nicht? Es heißt nicht, dass im letzten Monat die Lebensmittel in Russland um 32,24 Prozent oder um 11,44 Prozent teurer geworden sind. Auch nicht um den Mittelwert aus beiden. Es heißt bloß, dass eine willkürliche, kleine Auswahl an Lebensmitteln in einem Moskauer Supermarkt im Moment mehr kostet als letzten Monat. Und eine willkürliche, etwas größere Auswahl an Lebensmitteln bei einem Moskauer Online-Händler auch, wenn auch nicht so doll.

Und es heißt, dass der nächste West-Besuch Parmesan mitbringt.

(Danke an Gerrit und an Markus für Zahlen- und Excelhilfe.)

„Spasskaja Baschnja“, das Moskauer Militärmusikfestival

Spasskaja Baschnja Totale 

Erste Male: ein Militärmusik-Festival ansehen. Und das in diesen Zeiten, wo der nichtmusikalische Teil des russischen Militärs sich gerne mal in der Ukraine aufhält, natürlich nur auf Eigeninitiative im Urlaub oder weil er sich verlaufen hat. Trotzdem zum Festival gehen, geht das? Es geht.

„Spasskaja Baschnja“ heißt das Festival, nach dem Erlöserturm des Kremls, aber um es ausländischen Gästen leicht zu machen, ist auf der englischen Version der Homepage lieber vom „Kremlin Military Tattoo“ die Rede. Ein „großes ‚Schlachtfeld‘ der Bands aus verschiedenen Ländern“ sei das, ein „Kampf um die Liebe und Bewunderung des Publikums„, ein „gut gestimmtes Instrument des internationalen Kulturaustauschs“.

Antreten zum Austreten - Soldaten in historischen Kostümen kurz vor Beginn.
Antreten zum Austreten – Soldaten in historischen Kostümen kurz vor Beginn.

Im Vorprogramm reiten russische Soldaten Dressur auf Trakehnern, können Kinder unter Anleitung eines Clowns eine Kanone abfeuern, posieren Männer in historischen Uniformen für Fotos. Dann also internationaler Kulturaustausch, will sagen: Russlands Kapellen haben sich Verstärkung geholt. Aus Serbien und Armenien, Italien und der Türkei, aus der Schweiz, Irland und Mexiko. Und dafür, dass im Gastgeberland Militarismus und Uniformen zum Alltag gehören, ist das Ergebnis ungefähr das flauschigste Musikfestival aller Zeiten.

Ja, es gibt Märsche, aber dazwischen „Venus“, „Unchain my Heart“, „You’re in the Army now“ und „Bésame mucho“ – nur eben mit jungen Gardesoldaten, die dazu in Formation ihre Gewehre samt Bajonett jonglieren und Salutschüsse abgeben. Ein Posaunist und ein Saxophonist in Traumschiff-tauglichen Uniformen wetteifern in Bigband-Solos. „Katjuscha“ auf Dudelsäcken gehört zum Programm, auch „Korobeiniki„, die Tetris-Melodie. Eine Frau singt von der Liebe zu Moskau. Männer marschieren in Formationen, mal zackig, mal bilden sie ein warm angestrahltes Herz. Wem das noch nicht genug Flausch ist, der kann beim Bauchladenmann eine rote Fleecedecke gegen die Abendkälte kaufen.

Ein Herz für Militärmusik, gebildet von Militärmusikern
Ein Herz für Militärmusik, gebildet von Militärmusikern

Manchmal erinnert es an Jugend im Rheinland. Daran, mit Klarinette in der klammen Händen einem Sankt Martin hinterherzustolpern und sich zu wünschen, es gäbe Regen, weil dann nur die Blechbläser spielen müssten. An Karnevalszüge, zu denen der Farbe halber Gruppen aus anderen Ländern eingeladen werden. Ans Schützenfest, bei dem diese Kapelle aus Serbien sicher der kleinste Teilnehmer gewesen wäre zwischen all den Sankt Sebastianern und Hubertusschützen. Et Trömmelsche jeht heute Abend in Moskau. Manchmal synkopiert es sogar und alle, die gerade noch auf Eins und Drei geklatscht haben, gucken irritiert.

Wer ein Ohr fürs Zeitgeschehen hat, hält nicht nur beim Rhythmuswelchsel inne. Sondern auch, wenn die lautstark bejubelte Kapelle aus Sewastopol auftritt und eine Frau im blauweißen Kleid den „Sewastopol-Walzer“ von der Liebe der Matrosen singt. Wenn die Schweizer Sappeure mit ihren weißen Schürzen nach Gemetzel aussehen. Wenn „The Final Countdown“ erklingt. Wenn der Moderator jede ausländische Gruppe in der Landessprache verabschiedet: „Danke, Freunde, für einen großartigen Auftritt. Wir sehen uns nächstes Jahr.“

Wenn sie denn nächstes Jahr noch kommen. 2012 war hier die Bundeswehr dabei, kamen Polen und Franzosen. Noch 2013 wurden auf der Veranstalter-Seite explizit die teilnehmenden Nato-Staaten genannt, außerdem liefen Österreicher, Finnen und Briten auf.

Die Kasachen jedenfalls, das steht fest, werden wohl auch 2015 keinen Grund haben, nicht zu kommen. Vielleicht spielt ihre Ehrengarde ja dann noch mal „I Like To Move It“.

Stromschläge, inspiriert von Iwan Petrowitsch Pawlow

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„Pawlow“, klingelt da ein Glöckchen? Der Mann hat Hunden beigebracht, auf Befehl zu sabbern – eine Fähigkeit, von der man annehmen sollte, sie sei nicht besonders stark nachgefragt. Berühmt wurde Iwan Petrowitsch Pawlow trotzdem, denn er hatte mit seinem Versuchsaufbau (Glöckchen + Futter = Hund läuft Wasser im Mund zusammen, ein paar Mal wiederholen und der Sabber tropft auch von der Glocke allein) etwas belegt, was wir heute als klassische Konditionierung kennen. Nobelpreis! Tusch! Glückwunsch!

Maneesh Sethi möchte keinen Nobelpreis, sondern Bares. Per Crowdfunding will er Geld sammeln für ein Armband namens Pavlok, das uns zu sabbernden Hunden machen soll – oder zu braven Frühaufstehern, fleißigen Kirchgängern, ausdauernden Sportlern. Dazu können wir das Armband beauftragen, uns zu überwachen: War ich diesen Monat an mindestens drei Sonntagen in einer Kirche? Zweimal die Woche in der Muckibude? Und wenn der Wecker klingelt, stehe ich wirklich auf? Wenn nein, darf uns das Armband bestrafen – per Stromschlag.

Ja, richtig gelesen: Wer will, kriegt vom Pavlok eine gewischt. Bis die Konditionierung greift, man morgens um sechs aus dem Bett hüpft, Laufschuhe anzieht und zur Kirche joggt. Täglich. Eigentlich dürfte sich der Produktname nicht allein von Iwan Pawlow ableiten, sondern müsste Milgram-Pavlok lauten. Milgravlok.

Trotz des überdrehten Werbevideos und der pixeligen Testimonial-Fotos: Unterm Strich deutet die Unternehmensseite von Pavlok.com darauf hin, dass Sethi diese Idee ernst meint. Wäre es ein Scherz oder gar Satire, ein Experiment mit dem Leidenswillen von Menschen, wäre es sehr subtil. Subtiler als ein Stromschlag. Subtiler als ein sabbernder Hund.

(Foto von cocoparisienne bei Pixabay.)

Chinas Staatsmedien und die Ironie

Der Eingang zum Xinhua-Komplex in Peking
Der Eingang zum Xinhua-Komplex in Peking

Dass die staatlich kontrollierten Medien in China nicht immer gut darin sind, Ironie zu erkennen, war hier schon mal Thema. Als The People’s Daily eine satirische Lobeshymne auf Kim jong Un für bare Münze nahm und weiter verbreitete, ging ein Lachen um die Welt.

Bisher noch nicht ausreichend gewürdigt wurde dagegen die Rolle derselben Staatsmedien als Ironie-Lieferant. Als Beispiel taugt dafür die staatliche Nachrichtenagentur Xinhua, bei der ich 2012 über das Medienbotschafter-Programm der Bosch-Stiftung ein paar Tage hospitieren durfte. Eigentlich sollte der Zeitraum länger werden, aber es kam ein Parteitag dazwischen, währenddessen viele chinesische Redaktionen lieber keine Gäste im Haus haben wollten.

Der „Stift“, das Xinhua-Redaktionshochhaus
Am Anfang ist die Marschmusik. Quer über den Innenhof des Xinhua-Geländes ist sie bis zur Schranke am Eingang zu hören, dazu eine Lautsprecherstimme: eins-zwei, eins-zwei, eins-zwei. Daneben steht aufrecht das Haupthaus, das angeblich an einen Bleistift erinnern soll.

Xinhua ist die große, die einzige und vor allem: die staatliche Nachrichtenagentur in China. Andere Länder haben Sperrfristen, China hat Xinhua. Erst, wenn sie etwas berichtet, ist eine Meldung auf dem Markt – so ist es immer noch oft. Hier wird entschieden, was wahr ist und was öffentlich.

Vom Redaktionsalltag soll nichts Konkretes nach außen dringen, den Zettel muss ich noch vor Praktikumsbeginn unterschreiben. Das ist an sich nicht unüblich, auch in demokratischen Ländern unterschreiben Mitarbeiter solche Klauseln, wenn Firmen ihre Geschäftsgeheimnisse schützen wollen. Hier ist es allerdings doppelt bedeutsam, denn nicht nur Xinhua will sich schützen. Auch das Austauschprogramm beruht auf dieser Vertraulichkeit; wenn ein Medienbotschafter-Jahrgang sie ramponiert, erschwert er dem nächsten die Chance zum Einblick – und brockt den chinesischen Kollegen Ärger ein.

Zur Infrastruktur auf dem Xinhua-Gelände gehören auch Wohnblocks und ein eigenes Hotel.
Um vieles kann es darum in diesem Blogpost nicht gehen. Nicht um die redaktionelle Praxis, die gerade so kurz nach den neuen Beschlüssen des Parteitags interessant war. Nicht um die kritisch-flapsigen Sprüche beim Gang übers Firmengelände, das ein eigener kleiner Kosmos ist, mit Supermarkt, Hotel, Wohnblocks für pensionierte Mitarbeiter, einer Post und dem Souvenir-Shop, in dem der Schnaps der Marke Xinhua leider gerade aus dem Sortiment genommen wurde. Nicht darum, wie man beim Gespräch über den WLAN-Zugang merkt: Ach guck, Nerd ist Nerd, bei uns und bei euch.

Stattdessen eine Beobachtung, für die man nie bei Xinhua gewesen sein muss. Man kann das von außen mitbekommen, wie die Marschmusik, ehe man das Gelände betritt.

Greatfirewallofchina.orgViele Internetseiten, die der Regierung in Peking gefährlich scheinen oder ihr auch nur lästig fallen, sind in China blockiert, gelegentlich kommen neue hinzu. Unter Greatfirewallofchina.org lässt sich das leicht testen: einfach eine URL eingeben und die Seite versucht, sie von China aus aufzurufen. Google? Fail. Twitter? Fail. Facebook? Fail. Amnesty International, Reporter ohne Grenzen, Wikileaks? Fail, fail, fail.

Und was macht Xinhua? Betreibt einen eigenen Twitter-Account mit derzeit fast 800.000 Followern, mit offiziellem Verifizierungs-Häkchen. Dort posten die Redakteure zum Beispiel Fotos vom aktuellen Militärmanöver. Von einem Schönheitswettbewerb in Peking. Chinas eigenes Computerbetriebssystem soll im Oktober vorgestellt werden. Mehr private Investoren für die chinesische Eisenbahn gesucht. Chinesische Promis machen mit bei der Ice Bucket Challenge. Die Schlagzahl der Tweets ist hoch, oft sind es mehrere pro Stunde.

Technisch ist es kein Problem, trotz geblockter Seite auch von Peking aus zu twittern. Das geht bequem per VPN oder, etwas umständlicher, auch mit einem IFTTT-Recipe nach dem Prinzip „Wenn ich eine Mail von diesem Account an jenen Account schicke, dann poste deren Inhalt auf meinen Twitter-Account.“

Wie gesagt, technisch keine große Nummer. Aber in Sachen Ironie ist eine staatliche Nachrichtenagentur, die jeden Tag ein paar Dutzend Mal die Zensurmaßnahmen ihrer eigenen Regierung umschifft, schon bemerkenswert. Erst recht, wenn sie dabei auch direkt noch auf „China View“, ihren Auftritt bei YouTube hinweist.

Auch YouTube ist in China geblockt.

Bloggen ist schön, macht aber viel Arbeit. Unter dem Motto “Schönes bleibt” nutze ich deshalb den Moskauer Sommer, um ein paar Dinge aufzuschreiben, für die sonst immer die Zeit fehlte.