Das Jahr ohne Chor

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Dieses Jahr habe ich in keinem Weihnachtskonzert gesungen – weiß nicht, wann das zuletzt so war. Vielleicht zu Unichorzeiten, wo die Konzerte eher während des Semesters lagen? Sonst aber kenne ich es nicht anders: Wenn andere die letzten Grillparties und Radtouren des Jahres machen, befassen wir Chorsänger uns mit Jauchzet-frohlocket-venite-adoremus-gnadenbringende-jingle-all-the-way-il-est-né-le-tusen-juleljus-i-mnogo-mnogo-radosti.

Diesmal war das anders, und spätestens da habe ich gemerkt, wie sehr mir das dieses Jahr gefehlt hat. Einmal die Woche zusammen runterkommen, ausatmen, einatmen, konzentrieren und Musik machen. Einen Chor finden, das habe ich in so gut wie jeder neuen Stadt stets direkt erledigt, und auch in Berlin habe ich es versucht, aber es war verkorkst. Nicht nur, weil ich zum ersten Mal nicht mehr in einem Alter bin, wo man es bei Chören namens „Junge Stimmen/Klänge/Sänger“ versucht. Oder auch weil ich nach fünf Jahren lustig, laut und legato im Moscow International Choir unsicher war, was ich eigentlich noch kann, so an differenzierterem, komplexerem Musizieren. Irgendwas ist immer dazwischengekommen.

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Anfang des Jahres will die Neue Philharmonie Carmina Burana aufführen, da braucht man gut über 100 Sänger. Wir bewerben uns gemeinsam, S. und ich, nachdem wir schon in Moskau mehrere Jahre lang zusammen Musik gemacht haben. Die Proben sind super – der Chorleiter verlangt viel, justiert permanent nach und hat erkennbar Spaß an den anzüglichen Texten. Und schau, er hat einen Chor – da könnten wir doch über Carmina hinaus mitsingen! Doch leiderleider: Proben zweimal die Woche, dazu Konzertreisen, das schaffen weder S. noch ich. Immerhin bleibt uns, dass wir beide unser erstes Berliner Konzert direkt im Großen Saal der Philharmonie gesungen haben.

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Dann dieser Chor, der in einem der schönsten Kirchen der Stadt probt und so wunderbar klar klingt. Das Repertoire ist anders als alles, was ich bisher kenne, schon nach dem ersten Probenbesuch muss ich Musikbegriffe googeln, die ich noch nie gehört habe. Einige der Sänger komponieren sogar selbst, viele sind musikalisch deutlich fitter als ich, und ich habe total Lust, mich so richtig reinzuhängen und aufzuholen. Nach der Probe stehen wir noch rum, stoßen an, blicken über die Stadt. „Ich kann schon nicht glauben, dass ich hier proben darf“, sagt eine Sängerin, „aber noch weniger, dass ich hier oben Wein trinke.“ Zwei Proben bin ich dabei, finde mich rein, komme schon ganz gut mit – dann kommt die Chorleitung, die vorher auf Reisen war, zurück, und damit hat sich die Sache dann auch erledigt: So unwirsch, so abweisend, so von oben herab – ein Sänger, der unser Gespräch mithört, nimmt mich danach beiseite und sagt Dinge wie „lass dich nicht abschrecken“, „schlechten Tag erwischt“ und „sonst ganz anders“. Mag sein, mag nicht sein. Aber hier bin ich falsch.

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Vielleicht mal melden bei der Singakademie? Vor Jahren habe ich da schon mal mitgesungen, manche musikalischen Erklärungen des Chorleiters sind mir bis heute im Gedächtnis und immer noch hilfreich. Hätte ich damals schon gebloggt, ihr hättet euch einiges anhören müssen hier, über ein Konzert im Berliner Dom und – die Götter wandeln unter uns – einen Workshop mit dem Hilliard-Ensemble. Kurz hingemailt, schnelle, freundliche Antwort: Ja, gerne vorbeikommen, hier ist schon mal das Programm fürs nächste Konzert, und bitte das verpflichtende Probenwochenende beachten. Klar, dass das an einem Termin liegt, den ich nicht freischaufeln kann. Womit sich auch das erledigt hat.

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So geht das bis in den Herbst. Ein Kollege erzählt von seinem Chor, bald beginnen die Proben fürs Weihnachtsoratorium, es ist wieder diese Zeit. Jauchzet, frohlocket, aber bei mir ist die Luft raus. Ich bekomme es nicht mal auf die Reihe, den Chorleiter anzumailen.

Warum es dann doch noch geklappt hat? Facebook-Anzeigen-Targeting. Denn dass dieser „sponsored post“ in meiner Timeline auftauchte, kann nur daran liegen, dass ich ein paar Chor- und Musikseiten in Berlin folge: ein Kammerchor in Kreuzberg sucht Verstärkung, das Reperoire klingt so interessant, dass ich ein Vorsingen ausmache und es – trotz Erkältung, trotz fünf Jahren lustig, laut und legato – hinbekomme. Geprobt wird in einer nicht allzu gut geheizten Kirche, unten im Foyer Kerzen und Adventskranz, auf dem Klo erinnert ein Foto von Greta Thunberg daran, das Licht auszumachen.

Oben sitzen wir, der Chorleiter erklärt, wie man einen gregorianischen Gesang liest, der auf vier statt fünf Linien notiert ist, er kommt von Hölzchen auf Stöckchen auf Dorisch auf Phrygisch auf Dinge, die ich zuletzt im Musikschulunterricht gehört habe. „Riecht nach Essen hier, findest du nicht?“, sagt die Frau neben mir. Ja, erklärt jemand, das kommt aus dem Raum hinter der Orgel, wo sonst die Konfirmanden sind, da lebt eine Familie im Kirchenasyl. Auf unserer Seite der Orgel sind wir so wenige, dass man wirklich jede Stimme hört. Kammerchorfreude: auf der einen Seite der Sopran, auf der anderen der Tenor, beide so nah, dass ich mich an ihre Melodien anlehnen kann, zur Orientierung. Ausatmen, einatmen, konzentrieren. Und Musik machen.

Krieg und Frieden und Laserpointer

Das stand noch auf der Liste, ehe wir Moskau verlassen: ein Konzert im neuen Sarjadje-Saal, im kleinen Park nahe der Basiliuskathedrale. Der Park ist vor allem bekannt für seine Brücke, die ein Stück über die Moskwa führt und dann wieder zurück. An ihr vorbei geht es zum Konzertsaal, und wer in Moskau bisher das gemütliche alte Konservatorium als Ort für klassische Konzerte gewohnt ist, erlebt hier den maximalen Kontrast, nicht nur bei der Architektur:

Reihenweise junge, freundliche Menschen, die Karten kontrollieren und Jacken entgegennehmen – normalerweise die Domäne älterer, gerne auch etwas maulfauler Damen. Die Besucher haben sich nicht einfach schick gemacht, sondern tragen Kleidung, der man ansieht, dass sie teuer war. Das passt zu den Eintrittspreisen: Während man im Konservatorium für 300 oder 500 Rubel große Musik erleben kann, haben die Tickets hier 4000 gekostet – und das ist für hinten, oben, wo es günstig ist.

Im Saal dann viel Holz, warmes Licht und die Sorte Sessel, an denen sich die ein oder andere Fluglinie mal was abgucken könnte: Wer nicht will, muss weder mit dem Ellenbogen des Nachbarn noch mit der Rückenlehne des Vordermanns Kontakt aufnehmen.

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Ein Konzert für Business-Class-Kunden, es singt: Joyce DiDonato. „Krieg und Frieden“ steht auf Russisch auf den Tickets, im Original „In Times of War and Peace“. Eine Reihe von Barock-Arien (viel Händel und Purcell), erst über Krieg, Schmerz, Verlust, dann über Hoffnung, Zuversicht, Freude. Großartig gesungen, großartig musiziert – das hätte doch mehr als gereicht.

Aber die ganze Inszenierung drumherum: An die Wand projizierte Muster, erst Blut, dann Blütenblätter, schließlich Feuerwerk. Kunstnebel wabert über die Bühne, ein Mann (oben nackt, unten im Hosenrock) umtanzt DiDonato und die Musiker mit den immerselben Bewegungen. Plötzlich habe ich den älteren Herrn vor Augen, der bei Helge-Schneider-Konzerten tanzt. Was ist das jetzt hier, Kunst, Edelkitsch oder gar subversiver Humor?

Einmal abgelenkt von der Barockpracht auf der Bühne fällt noch ein Unterschied zu anderen Moskauer Konzertsälen auf: Wie tief dunkel das hier im Raum ist. Kein einziges Handy, auf dem gerade gefilmt wird oder Noten mitgelesen werden. Niemand, der per App das Hörgerät justiert oder schaut, ob sich der Babysitter gemeldet hat.

Warum, das sieht man, wenn doch kurz mal wo etwas aufleuchtet: Sofort erscheint ein roter Punkt, fährt dem Nutzer über die Hände und den Bildschirm, bis er das Gerät wieder abschaltet. Manchmal sind gleich mehrere solche Punkte im Saal unter uns zu sehen; die Aufpasser mit den Laserpointern müssen ziemlich weit oben sitzen, wo sie alles im Blick haben. Ein Alleinstellungsmerkmal hat Sarjadje damit auf jeden Fall – im Konservatorium, im Bolschoi, im Dom Musiki, die Methode habe ich in Moskau noch nirgends erlebt.

Nach dem Konzert, nach Standing Ovations für die Sängerin und das Orchester, ein wenig Recherche: Die Idee mit den Laserpointern scheint aus China zu kommen, 2016 war das „laser shaming“ bereits an einigen Konzerthäusern üblich, was Zuhörern und Musikern aus dem Ausland durchaus auffällt. Dass die Methode nun gerade in Russland aufgegriffen wird, passt ins Bild: Hey, ich kann hier jemand maßregeln und mit technischem Schnickschnack hantieren! Gut möglich, dass einem das in in Moskau demnächst nicht nur in Sarjadje begegnet. Auch im Staatszirkus, erzählt ein Freund, sind sie schon im Einsatz.

Wie ich einmal Gesangsunterricht auf Russisch nahm

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Meine Gesangslehrerin hab ich mir ja nach ihrem Lächeln ausgesucht. Also: Das soll nicht heißen, dass sie nicht kompetent ist – ihre Qualifikationen kann auf „Wasch Repetitor“, der Webseite, die Schüler und Lehrer für alle möglichen Fächer zueinander bringt, jeder nachlesen. Aber qualifiziert sind die anderen da ja auch, mich hat nur deren Mimik abgeschreckt. Dieser Blick, der sagt: „Soso, Sie haben also schon Erfahrung? Hört man gar nicht.“ „Na, war wohl keine Zeit zum Üben seit dem letzten Mal?“„Also wenn Sie nicht mal das können, wollen Sie dann nicht vielleicht noch mal von vorne anfangen? In der Orff-Gruppe, mit Klanghölzern und Schellenkranz?“

Statt mir das anzutun, gehe ich nun also zu D., die auf ihrer Wasch-Repetiror-Seite lächelt, freundlich und konstruktiv. Der Unterricht findet im Büro ihres Mannes statt, ein Souterrain-Raum mit ein paar Schreibtischen, einem Kopierer (sehr praktisch für Noten) und gelegentlich dem einen oder anderen Mitarbeiter, der vor Stundenbeginn von D. höflich verscheucht wird. Manchmal feudelt eine Putzfrau durchs Bild. In der einen Ecke liegen Stücke dicker Metallrohre – die Männer, die hier arbeiten, überprüfen Schweißnähte auf Baustellen. In der anderen Ecke steht das E-Piano. Und daneben, einmal die Woche, ich.

⁃ „Also im (…..) müssen Sie mehr (…)“, sagt D.

⁃ Ich sage: „Wie bitte?“

⁃ „Naja, beim Singen ist ihr (…) zu (…).“

⁃ „Entschuldigung, das versteh ich nicht.“

⁃ „Sie müssen singen, als hätten Sie ein Äpfelchen im Mund.“

Aaah, der Rachenraum. Die Klangfarbe. Kein Standardvokabular. Ich bin froh, dass D. sich auf diese seltsame Schülerin mit den seltsamen Wünschen eingelassen hat: Bitte komplett auf Russisch, auch wenn’s dann länger dauert – kein Ausweichen auf Englisch oder Musiker-Italienisch. Und bitte auch nicht die üblichen Gassenhauer aus dem internationalen Repertoire, nicht wieder „Voi che sapete“. Ich möchte die Stücke kennenlernen, an denen sich russische Gesangsschüler so abarbeiten.

Wie es läuft? Schwer zu sagen. Einerseits merke ich, wie gut es tut, sich mal wieder konzentriert mit der eigenen Stimme und dem eigenen Körper auseinanderzusetzen, statt nur die grundlegenden Choranforderungen (richtige Töne, richtiges Tempo und im Zweifel gerne richtig laut) zu erfüllen. Andererseits ist Musikausbildung in Russland, auch für Amateure, um einiges anspruchsvoller als in Deutschland. Jeder Musikschüler muss hier regelmäßig Prüfungen ablegen, es geht nicht nur ums gemeinsame Musizieren.

Entsprechend hoch sind, Lächeln hin oder her, auch die Ansprüche von D. So viel und so schwierig wie hier musste ich zum Beispiel lange nicht mehr vom Blatt singen. Ergebnis: „Patschti choroscho“ – beinahe gut. Zwischendurch erzählt und erklärt D. auch gerne: „Das russische Repertoire besteht zu einem hohen Anteil aus Liedern über unglückliche Liebe. Weil das Land halt so groß ist. Stellen Sie sich vor, Sie sind allein, gucken aus dem Fenster und sehen nur Wald, Wald, Wald. Keinen anderen Menschen. Da entstehen dann solche Lieder.“

Oder, in einer anderen Stunde, mal wieder zum Thema Rachenraum: „Russischen Schülern muss man immer beibringen, alles ein bisschen enger zu machen Westliche Schüler müssen lernen, ihn zu weiten. Das liegt an der Phonetik unserer Sprachen, daran, was wir gewöhnt sind.“ Interessant, und noch dazu verständlich – wie schön, wenn der Schlüsselbegriff ein Fremdwort ist! Direkt mal probieren, den weiten Rachenraum – „patschti choroscho!“

Was auch bei der Verständigung hilft: Bei den Sprachbildern scheinen sich deutsche und russische Musiklehrer nicht groß zu unterscheiden. Mein Atem ist eine Springbrunnenfontäne, oben drauf liegt ein Tennisball, und der muss immer auf derselben Höhe bleiben? Sehr gern. Stehen wie eine Marionette, bei der jemand am Kopf-Faden noch mal extra gezogen hat? Natürlich. In die Stirn atmen und in den Raum unterhalb der Augen? Bitte sehr, bitte gleich.

Andere Stunden sind deutlich härter. Vergiss alles, was du über Artikulation, Intonation und Phrasierung gelernt hast – wir arbeiten heute nur am Klang, 60 Minuten lang. Sing mit rausgestreckter Zunge! Patschti choroscho, aber nicht so nasal! Nochmal, nur diese zwei Takte. Und jetzt mit einem kleinen Glissando von jeder Note zur nächsten. Patschti choroscho, aber leiser! Egal, wenn die Tonhöhe verrutscht, wir reden hier über Klang, wiederholt D.: „Man sagt ja immer, wir Russen können gut Fünfe gerade sein lassen und ihr Deutschen plant, bis alles perfekt ist. Also, Sie müssen russischer singen.“

Ich schaue auf meine Notenmappe, in der inzwischen Stücke von Glinka und von Rubinstein liegen, russische Volkslieder, vertonte Puschkingedichte. Dann strecke ich die Zunge raus, atme ein, versuche es ein weiteres Mal. Und verdränge die Stimme, die aus dem Hinterkopf ruft: „Wenn es auch diesmal wieder nur ‚patschti choroscho‘ ist, werfe ich mich auf die Rohre in der Ecke da drüben und beiße ihnen allen die Schweißnähte durch.“

Wofür man zu den World Choir Games fährt

Sochi Chorolympiade 2016

Für den Moment, wenn das aus dem Olympischen Dorf entstandene Hotel zwar gute Zimmer hat, aber keinerlei Probenräume. Also stehst du morgens um elf barfuß auf einer Wiese auf den zehn verfügbaren Quadratmetern Schatten und singst mit Russen, Iren, Briten, Franzosen und Deutschen ein Lied aus der Ukraine. Der Dirigent hat seine Tasche an die Turnstangen gehängt, hinter ihm feinstes Bergpanorama.

Für den Moment in der Schlange zum Frühstück (Obst, Gemüse, Brot, Käse, Wurst, Syrniki, zwei Sorten Kascha und, aus unklaren Gründen, Spaghetti), wenn vor dir zwei Frauen aus Teheran stehen, hinter dir eine Kinderchorhorde aus Japan und zwischen den Tischen eine Venezolanerin, deren Blütenkopfschmuck frischer aussieht als das ganze Buffet.

Für den Moment im Bus von Sotschi zurück nach Adler, wenn der Busfahrer bei über 30 Grad durchsagt: „Liebe Passagiere. 16 Leute sind gerade eingestiegen, nur zehn von ihnen haben bezahlt. Bitte geben Sie Ihr Geld jetzt nach vorne durch, oder ich schalte die Klimaanlage ab. Das hat letztes Mal das Problem in 20 Sekunden gelöst.“

Für den Moment, wenn du auf deine zehn Minuten Generalprobe in dem Saal wartest, wo gleich der Wettbewerb stattfindet. Auch hier gibt es keine Proberäume, und Schatten ohnehin nur an den Toiletten oder neben den Müllcontainern. Aber hinterm Haus ist direkt das Hafenbecken, also: einsingen mit Blick auf Meer und Boote.

Für den Moment, wenn du abends im Dunkeln am Ufer des Schwarzen Meeres sitzt, rüberguckst Richtung Türkei und die nächsten zwei Sänger, die an den Strand kommen, sind aus Köln. Komplexe, vielschichtige Heimatgefühle. Neue, alte, beide.

Für den Moment, wenn die Sprecherin eines chinesischen Kinderchores „ein japanisches Lied über den fleißigen Sommer einer Ameise“ ansagt, gefolgt von der Anordnung: „Enjoy!“ Wenn der Chor aus Nischni Nowgorod so unglaublich aufeinander eingespielt ist, dass er auch dann im Takt bleibt, wenn alle Frauen der Dirigentin den Rücken zudrehen. Und wenn du überlegst, ob man das nicht eigentlich immer so machen könnte wie dieser Chor in den pink-blau-lila Kleidern, die ihr Lied einfach damit beenden, dass sie das Wort „всё“ („alles“, oder hier besser: „das war’s“) singen und die Arme hochreißen. Immerhin weiß dann jeder, wann er klatschen soll.

Für den Moment, wenn das örtliche Fernsehen noch ein paar Schnittbilder fürs Abendprogramm braucht, über die hinweg sich die Moderatorin mit ihrem Kollegen über die Chorolympiade unterhalten kann. Schön, dass wir nicht umsonst an unserem extra sanften Pianissimo-Einstieg geübt haben!

Für den Moment, wenn ein holländischer, ein chinesischer und zwei russische Chöre gemeinsam ein „Freundschaftskonzert“ zu bestreiten haben. Mitten in einem Vergnügungspark. Mit nur vier Mikrofonen. Ach so, und in der Einflugschneise zum Flughafen von Sochi, was ja nur eines der populärsten Urlaubsziele in Russland ist. Ist es ein Vogel? Ist es ein Flugzeug? Es ist immer ein Flugzeug.

Für den Moment, wenn wir uns am letzten Abend auf dem Spielplatz zwischen zwei Hotelblocks treffen, auf Bänken, auf dem Boden, auf dem Klettergerüst. Irgendwer fängt an, andere fallen ein, es wird schnell vielstimmig und gerne auch laut. Nicht in allen Rucksäcken ist Bier, in einem ist auch eine Geige. Bei den russischen Liedern geht es um Freundschaft und Apfelblüten, um Abschied und ums Feiern. Uns Nichtrussen fällt, querbeet, „Auf einem Baum ein Kuckuck“ ein, „Guide me, oh thou great redeemer“ und „Goodnight Irene“. Mitternacht ist vorbei und es sind immer noch 26 Grad. Am nächsten Morgen werden wir erfahren, wie wir abgeschnitten haben.

Mein Chor, mein Moskau, meine Katakomben

Sänger kommen dahin, wo andere nicht hinkommen. Ob Proben oder Auftritt, der Chor darf in die Hinterzimmer, die Katakomben, die Bereiche für Befugte. Zwischen Einschulung und Abitur hätte man mich mit verbundenen Augen und Watte in den Ohren in den Keller der Hildener Stadthalle schicken können und ich hätte trotzdem gewusst, wo ich zum Einsingen hin muss – oder, im Karneval, zum Schminken. Unser Eingang war der auf der Rückseite, wo auch die Feuerwehrleute ihr Kabuff hatten.

Bis heute gilt darum: Klar, in den Konzertsaal kommt jedermann rein, für den Preis eines Tickets. Aber wir sind die, die sich hinter der Bühne rumdrücken, wo in einem halben Dutzend Sprachen „bitte Ruhe“ an der Wand steht. Wir kennen den schnellsten Weg von ganz oben auf der Orgelempore nach ganz unten in den Orchesterprobensaal, zu dem wir natürlich nie etwas anderes sagen würden als OPS. Wir machen auf dieser Bühne unsere Stellprobe und unsere Hauptprobe, am nächsten Tag die Generalprobe mit Lichtprobe und am Tag drauf, kurz vorm Konzert, noch eine schnelle Anspielprobe. Danke, wir wissen, wo wir stehen. Das hier gehört uns.

Diese Art, von einem Ort Besitz zu ergreifen, ist von Stadt zu Stadt geblieben. Edinburgh gehört mir ein bisschen mehr wegen eines „Messias“ in St. Giles‘ Cathedral, Köln wegen eines „Roberto Devereux“ in der Philharmonie, Berlin wegen eines Konzertes im Dom, von dem ich nur noch weiß, dass es irgendwie um Wasser und Fluten ging und dass wir eine besonders kreative Aufstellung hatten.

In England sind es die Royal Albert Hall und Milton Abbey, in Peking irgendein Schulgebäude vor den Toren der Stadt – weil so ein Auftritt, mit der Probenarbeit davor, einem eben eine besondere Berechtigung gibt, sich hier aufzuhalten. Man nimmt am Leben in dieser Stadt mehr als nur oberflächlich teil und muss sich im Gegenzug nicht angesprochen fühlen, wenn Leonard Cohen singt: „Don’t be a tourist.“

Mit dem Moscow International Choir zu musizieren bedeutete bisher vor allem Besitzansprüche auf die St. Andrew’s Church, wo wir proben und zwei Konzerte im Jahr geben. Dass einigen von uns bald auch der Große Saal des Konservatoriums ein klein wenig gehören wird, sorgt seit Wochen für vorfreudiges Grundrauschen (und sehr viel diszipliniertere Proben). Und gestern Abend gab es noch was obendrauf: eine Probe da, wo unser Dirigent sonst mit seinem anderen Ensemble auftritt, in Moskaus riesiger, prächtiger Christ-Erlöser-Kathedrale.

Nicht im Kirchenschiff, da kann ja jeder rein, der ein Kopftuch anzieht und sich ein bisschen von den missmutigen Wachmännern anraunzen lässt. Nein, in den Gewölben unter der Kirche, wo im Gang gerade frisch gestrichen wird, wo eine Art Jugendherbergsküche auf die Mitarbeiter des Patriarchen wartet und wo vier von unseren Bässen noch kurz abgeworben werden, um ein golden gerahmtes Bild von A nach B zu schleppen. Kein so schlechter Ort. Der gehört jetzt also auch uns.

Der Chorworkshop mit Voces8 in acht Highlights

Milton Abbey Summer School Scores

Kein Ausschlafen, Essen in der Kantine, jeden Tag stundenlange Probenarbeit, abends Konzerte und wenn man gerade ins Bett gefallen ist, weckt einen der Feueralarm. Man muss schon eine besondere Sorte Musik-Nerd sein, um so seinen Urlaub zu verbringen.

Wir sind 150, und jeder einzelne ist froh, einen Platz ergattert zu haben. Denn die Dozenten bei diesem Chorworkshop in der südenglischen Pampa sind Voces8. Wenn man sich als Sänger von jemandem etwas abgucken möchte, dann sind die acht schon keine so ganz schlechte Wahl. (Hier singen sie das ohnehin ziemlich großartige „Ubi Caritas“ von Ola Gjeilo.)

Sportler fahren ins Trainingslager. Wir sind hier, in Milton Abbey, einer Schule im historischen Gebäude. Die Highlights der Woche, natürlich in acht Punkten:

1. Das Einsingen

Das mag komisch klingen, aber ja, die Einsingübungen waren für mich tatsächlich einer der Höhepunkte. Wahrscheinlich, weil der Kontrast so groß ist zum Chor hier in Moskau, wo die Devise „im Zweifel forte und marcato“ gilt und das Aufwärmen chronisch zu kurz kommt.

Die halbe Stunde Wachwerden jeden Morgen – Körper, Atmung, Stimme – war gerade deshalb eine super Sache. Erst recht, weil jeder von den acht Sängern/Dozenten seine eigenen Methoden mitgebracht hatte.

Gähnen, Hecheln, Explosivlaute, Tonfolgen, das kennt man ja. Luftgitarre spielen (und hinterher zerdreschen) war mir dagegen neu – genau wie das allmorgendliche Gefühl, dass eine halbe Stunde mehr Schlaf der Auge-Hand-Koordination vielleicht ganz gut getan hätte. („Try not to hit yourself in the face“, siehe Video, bringt es ganz gut auf den Punkt.)

So sorgfältig betreut hat die Stimme dann auch tatsächlich sechs Tage Proben, drei Konzerte, zwei Gottesdienste und allerlei abendliches Spontangesinge gut überstanden.

2. Das Zuhören

Töne angeben? Ach komm, ihr seid doch schon groß, der Grundton reicht. So in etwa war die Haltung, egal, mit wem von Voces8 wir gerade gearbeitet haben. Fiel mir am Anfang schwer, weil es lange keiner mehr eingefordert hatte. Noch ein Grund also, sich zu konzentrieren. Und ein Erfolgserlebnis, je verlässlicher es nach und nach wieder klappte.

3. Der Ort

Schon sehr englisch, unser Zuhause für eine Woche – die Architektur, der perfekte Rasen, die zermatschten Erbsen beim Mittagessen, die Unterbringung in den verschiedenen Schulgebäuden („In welchem Haus bist Du denn?“ – „Slytherin.“).

Milton Abbey

In einem Aufenthaltsraum hängt noch die Liste, welches Haus im letzten Schuljahr die meisten Punkte gesammelt hat. Ein junger Tenor sieht aus wie Neville Longbottom. Und wie heißt der Gastmusiker, der mit uns am zweiten Tag etwas einstudiert? Alexander L’Estrange. Keine weiteren Fragen.

4.  Das Repertoire

Jedes Land hat ja für jedes Niveau so seine typischen Chorwerke, und irgendwann hat man die meisten mal gesungen oder zumindest gehört. Die Woche in Dorset war also auch eine Chance, viele neue Stücke kennenzulernen: Fyre, Fyre! von Thomas Morley (Schmackes!), Stephen Paulus‘ Pilgrim’s Hymn (Mystik!), My spirit sang all day von Gerald Finzi (Taktwechsel! Noch einer! Schon wieder!) – und das war nur die Kammermusik.

Außerdem gelernt: Shantys und Lieder aus der Tudorzeit lassen sich problemlos mischen. Henry VIII hat mehr komponiert als nur Greensleeves. Und so eine kleine Mozartmesse kann man im Notfall auch ganz gut vom Blatt singen.

5. Die Atmosphäre

Dass die Leiter eines Workshops bei den Proben und Konzerten ansprechbar sind, ist klar. Wie viel man aber auch sonst mit einigen von Voces8 zu tun hatte – in der Essensschlange, an der Bar, zwischen Tür und Angel – das war schon sehr sympathisch.

Manche waren sogar mit Eltern/Partner/Nachwuchs angereist, und auch sonst war die Atmosphäre durchweg familiär: Gäste wie Alexander L’Estrange und seine Band oder Paul Phoenix kamen also nicht nur zu ihren Proben und Konzerten, sondern blieben länger und gaben ihrerseits Feedback und Tipps („Wenn ihr ‚Falalalala‘ singt, denkt dran: Das haben die damals so getextet, weil sie nicht offen sagen konnten ‚Oh, Baby, ich mag, was Du da gerade tust‘.“). Wahrscheinlich hat es auch denen in der Milton-Abbey-Idylle gefallen.

6. Die Kammermusikgruppen

Endlich mal wieder ein Madrigal singen, und dann auch noch in so einer madrigaligen Atmosphäre: liebliches Südengland, Sommer (jaja, englischer Sommer – Unterhemden, Longsleeves und eine Wärmflasche für nachts, so packt der Profi). Geprobt im Ballsaal mit sehenswerter Decke, aufgeführt in einer Abteikirche, wie man das halt so tut.

 

Milton Abbey Ballroom Ceiling

Alles, was im großen Ensemble unter „passt schon irgendwie“ fällt, hat uns unser Chorleiter hier nicht durchgehen lassen (danke, Chris!).  Schön, mal wieder so konzentriert und in kleiner Besetzung an ein paar Stücken zu arbeiten.

7. Der Französisch-Fail

Kein Gemeinschaftserlebnis, sondern ein komplett persönliches: Wie sehr der Versuch, sich mit den französischen Teilnehmern zu unterhalten, gescheitert ist. Zuhören, verstehen, kein Problem. Aber antworten? J’habite à Moscou, i je rabote chez une gasyetta. Gelächter auf beiden Seiten.

Jedenfalls habe ich beschlossen, das als Erfolgserlebnis zu deuten. Weil die ganzen gepaukten Vokabeln offenbar im Hirn inzwischen gut Wurzeln geschlagen haben.

8. Die anderen Sänger

Was das für eine vielfältige, internationale Gruppe war, fiel vor allem an den Abenden auf, wo alle aufgerufen waren, eine Kleinigkeit aufzuführen – „your party piece“. Hätte ich doch nur mehr Videos gemacht! Von der wahrscheinlich ältesten Kursteilnehmerin, sicher gut in den Siebzigern, als Eliza Doolittle mit „Wouldn’t it be loverly“.

Von den drei Jungs, alle noch diesseits des Bartwuchses, mit Gitarre, Ukulele und einem selbstgebastelten Mash-up aus zwei Pop-Nummern.  Von allem, was da stimmlich zwischen Opernhaus und Fankurve so abging. Und von Händels Halleluja-Chor, kurz vor Mitternacht, ohne Noten, aber mit Vehemenz. Alle zusammen.

 

Scratch Messiah in der Royal Albert Hall

Royal Albert Hall Scratch Messiah 2014 panorama 

Einmal das Foto großklicken. Von der Orgel nach rechts, bis da, wo die Logen anfangen. Jetzt ein Stück nach unten, noch ein bisschen, stop: Da irgendwo stehen wir, Katharina und ich, in roten Outfits, dem Dresscode für den Alt beim „Scratch Messiah“ in der Royal Albert Hall. Und ja, es fällt mir auch ein paar Tage danach noch schwer, nicht jedes Mal „Royal Fucking Albert Hall“ zu sagen, so grandios war das Gefühl, dort zu stehen und zu singen.

Über das Scratch-Prinzip hab ich hier schon mal ausführlicher gebloggt – Musiker studieren zuhause ein Stück ein und treffen sich dann, um es aufzuführen. Manchmal gibt es auch noch eine einzige gemeinsame Probe, aber nicht bei der Londoner Version von „The Really Big Chorus„. Jacken abgeben, noch mal zum Klo, Sitzplatz finden, sich den Nebenleuten vorstellen, Trinkflasche
unter den Stuhl stellen und los. Scratch as scratch can.

Völlig richtig natürlich, dass die ersten Chor-Noten vom Alt gesungen werden. Das Orchester ist unerschütterlich – muss es auch sein, denn 3000 Sänger, das ist keine Anzahl, die zum Allegro oder gar zur spontanen Tempoverschärfung neigt. Erst recht nicht, wenn sich manche in die schwierigen Stellen dann doch noch ein bisschen reinfühlen müssen. Aber auch das kennen Chorleute, nicht nur vom Scratch: Manchmal markiert man eben nur und verlässt sich auf die anderen.

Katharina und ich haben beide schon ein paar Messiasse hinter uns, es fluppt also an diesem Abend meistens, auch bei frickeligen Sätzen. Wie viel da jetzt Können ist, wie viel Adrenalin und wie viel Inspiration durch die heiligen Hallen, den genius loci? Komplett egal. Was bleibt, sind das Gefühl beim Schlussapplaus und die Bilder.

(Danke an Anja für das Panorama-Foto obendrüber!)

Russische Reise – bis nach Georgien

Die Georgier, die wir trafen, ähnelten den Walisern. Jede zehnköpfige Männergruppe verfügte über mindestens sieben schöne Singstimmen. Und nun brach an diesem Tisch der Gesang aus, großartiger Chorgesang. Sie sangen die Lieder der georgischen Bergschäfer und alte Kampflieder. Und die Stimmen waren so gut, und der Chor war so gut, dass sie beinahe wie ein Profichor klangen. Und dann steigerte sich das Tempo, und zwei Männer ergriffen Stühle und drehten sie um, die Sitzflächen auf die Knie, und benutzten sie als Trommeln, und dann wurde getanzt.

Für seine „Russische Reise“ ist John Steinbeck kurz nach dem Zweiten Weltkrieg zusammen mit dem Fotografen Robert Capa durch die Sowjetunion gefahren. In Trümmern und auf Äckern, im Ballett und in der Brotfabrik, bei Diners in der Hauptstadt und Theateraufführungen in der Provinz dokumentieren die beiden Männer das, was sie vom Alltag zu sehen bekommen. Sie stellen viele Fragen und müssen selber immer wieder Variationen derselben beantworten: Kommt ein weiterer Krieg? Rüsten die USA auf, um die Sowjetunion anzugreifen?

Foto: Unionsverlag
Foto: Unionsverlag
Dazwischen frotzelt Steinbeck über Capa, inszeniert ihn als spleenigen, zum Fatalismus neigenden Künstler, bis plötzlich auch Capa anfängt zu schreiben, um sich zu verteidigen – und seinerseits an Steinbeck rumzukritteln.

Auch, wenn es zwischen Autor und Fotograf nicht immer harmonisch war: Text und Bilder ergänzen sich perfekt. Und noch etwas passt: Oft ist es bei übersetzten Büchern schon ein gutes Zeichen, sich über die Übersetzung nicht zu ärgern. Hier ist sie so treffend und in sich so stimmig, dass ich Susann Urban gerne zwei bis drei Bier ausgeben würde – vorausgesetzt, sie erzählt dabei, wie sie das hingekriegt hat.

Vier Konzerthaus-Abende und ein Countertenor

Eine Woche mit vier Abenden im Konzerthaus Dortmund – Rekord, dachte ich erst. Aber da war ja die Christmas Show, damals™, als wir gefühlt jeden Adventsabend eine Vorstellung zu singen hatten, sonntags zwei. Nicht mal Kinderchor-Auftritte mit Heino und im WWF-Club hatten mich darauf vorbereitet: Tänzerinnen in Kostümen wie beim Eurovision Song Contest (BHs aus zwei halben Fußbällen! Lange Röcke, aus denen mit einem Handgriff Minikleider werden!), Solisten-Diven jeden Geschlechts, einschließlich „Kinder, ich kann so nicht arbeiten!“ Wir älteren Mitglieder im Chor reden noch heute von der Christmas Show wie unsere Großeltern von Nachkriegsdeutschland: Wir hatten ja nichts. Nur Kunstschnee und blinkende Lichter.

Abgesehen davon jedenfalls sind vier Abende Konzerthaus in einer Woche Rekord. Montag Generalprobe für Debussys „Nocturnes“ mit Stefan Solyom, Dienstag und Mittwoch die Aufführungen – aber das Highlight war dann doch der Donnerstag, diesmal mit Sitzplatz im Publikum statt Stehplatz auf der Bühne.

Philippe Jaroussky (Foto: Pascal Rest/Konzerthaus Dortmund)
Philippe Jaroussky (Foto: Pascal Rest/Konzerthaus Dortmund)

Ein Arienabend mit Philippe Jaroussky, Countertenor – von selber wäre ich nicht auf die Idee gekommen, aber was für ein großartiger Tipp! Viele Stücke für Virtuosen zum Angeben – legte man einem Feldwaldwiesensänger diese Arien auf den Notenständer, er würde in irres Lachen ausbrechen oder das Gewicht am Metronom stramm Richtung Lento schieben.

Philippe Jaroussky dagegen stolziert, gestikuliert, strahlt, haut eine Koloratur nach der nächsten raus – oder schwelgt in den ganz großen Gefühlen. Die Mimik muss man mögen, sonst erinnert es manchmal ein bisschen an Mr. Bean, aber selbst dann ist klar: So singt, wer eine Herausforderung gefunden hat und weiß, dass er ihr gewachsen ist. Und genau so klingt das dann auch, Stück für Stück, beliebige italienische Worte und eine Stimme, zu der einem so schnell nichts Vergleichbares einfällt.

Philipp Jaroussky (links) und Dirigent Andrea Marcon. (Foto: Pascal Rest/KOnzerthaus Dortmund)
Philippe Jaroussky (links) und Dirigent Andrea Marcon. (Foto: Pascal Rest/Konzerthaus Dortmund)
Wer mit Hören nicht ausgelastet ist, der kann ja gucken, auch darauf ist die Jaroussky-Show erkennbar ausgerichtet. Aber eigentlich ist die Musik da vorne mitreißend genug, das Venice Baroque Orchestra hat vor lauter Schmackes direkt mal entschieden, im Stehen zu spielen.

Einmal macht es peng, an der historischen Geige ist eine historische Saite gerissen, der Geiger geht ab. Zwei Minuten später, im selben Stück dasselbe Peng. Geiger zwei verschwindet. Der Mann an der Laute sieht aus wie Ralph Siegel, der Dirigent wie Salman Rushdie. Und all das ist ganz furchtbar egal, wenn Philippe Jaroussky singt.

Singt mehr Scratch!

Nach dem Wochenende bei den Scratch Muziekdagen Leiden kann ich noch weniger als eh schon fassen, warum es in Deutschland so wenige Scratch-Musikprojekte gibt. Dabei erschließt sich der Charme des Unfertigen, des Halbimprovisierten, sofort: Wenn sich 800 Leute freiwillig in eine Kirche auf „Klapstoeltjes“ hocken, mit weniger Beinfreiheit als in der Economy Class.

Wenn Menschen im Pausengespräch Dinge sagen wie: „Ach, wir wohnen nur drei Städte weiter, das radeln wir heute Nacht schnell zurück“. Wenn die frisch restaurierte Thomas-Hill-Orgel ihren ersten Einsatz hat, der Dirigent Dönekes über Mozart und Händel erzählt und zwischendurch noch ein Sänger einer Cellistin vom Dirigentenpult aus einen Heiratsantrag macht – dann ist das schon ein ziemlich besonderer Tag und das Konzert hat noch nicht mal angefangen.

Die Holländer haben sich in ihrem Scratch-Eifer an den Briten orientiert, das Festival in Leiden gibt es seit 25 Jahren. Eine Handvoll ausländischer Gäste waren wir diesmal, aus Deutschland und aus Belgien. Für viele, die in kleineren Chören singen, ist so ein Scratchprojekt die Chance, mal eines der großen Chorwerke aufzuführen.

Wer jetzt Lust bekommen hat: Hier ein paar Scratch-Projekte in den kommenden Monaten. Ist sogar eins in NRW bei.

13. April: Scratch in Rotterdam. „Ein deutsches Requiem“ von Brahms, aufgeführt in der Laurenskerk.

13. April: Mitsing-Aida (die Oper) in Amsterdam.

20. Mai: Hoofdstadt Scratch in Amsterdam. Verdi-Requiem im Concertgebouw.

24. Mai: Scratch 2013 in Hagen. Ein Musicalprogramm unter dem leicht staubigen Namen „Chartstürmer„.

8. Juni: Musical Sing Along in Den Haag. Rent, Haispray, Aida (das Musical) und Les Misérables, das haben ja im Moment viele im Ohr.

22. Juni: Scratch Kampen. Unter anderem mit dem Gloria von Vivaldi und der Krönungsmesse von Mozart. Geleitet von Aart Mateboer, der Sonntag in Leiden die Tenor-Solopartie gesungen hat.

21. September: Haydn-Schöpfung-Scratch in Gouda. Programm: Wie der Name schon sagt.