Coda

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Neuer Monat, neuer Job: Als ich vor zwei Wochen hier die Bilanz von drei Jahren bei der Moscow Times zog, hatte ich ja schon angekündigt, dass sich etwas Neues anbahnt. Nun ist es endlich auch spruchreif: Ab sofort kümmere ich mich um Social Media bei Coda – einem journalistischen Nonprofit, das sich auf hintergründigen Journalismus konzentriert, oft mit einem Blick auf die Staaten der früheren Sowjetunion.

Ziemlich genau ein Jahr ist es her, dass mir Coda zum ersten Mal aufgefallen ist. Damals war das Projekt noch ganz neu und veröffentlichte gerade die Video-Dokureihe „Transmoskva“ von Pascal Dumont. Als ersten Schwerpunkt hatte sich Coda da gerade das Thema #LGBTQCrisis rausgesucht. Seitdem sind zwei weitere Komplexe hinzugekommen – #DisinformationCrisis und #MigrationCrisis. Drei Themen, die in diesen Tagen gar nicht genug Aufmerksamkeit bekommen können – darum arbeitet Coda unter anderen mit dem Guardian, Eurasianet und Magnum Photos zusammen.

Wer wissen will, aus welchen Mythen sich Schwulenhass in Russland speist, was virale Videos mit dem Krieg in der Ukraine zu tun haben oder wer geflohenen Schwangeren hilft, mit der deutschen Bürokratie zurecht zu kommen, der kann das bei Coda nachlesen. Bei anderen Themen ist auch Angucken eine Option, Coda arbeitet viel mit Video und Animation.

Neue Kollegen also, in New York, in Tiflis und in Berlin. Neue Themen – allein das Einlesen in den letzten Tagen, von Armenien bis Tadschikistan, war schon faszinierend. Neue Aufgaben zum Einarbeiten: Social Media für Videos, was muss ich da noch mal wissen? Was geben wir als Redaktion uns für Regeln für Live-Tweets? Und was mache ich wohl beim Moderieren von Facebook-Kommentaren, wenn die plötzlich auf Georgisch sind?

So viel Neues, aber auch ein paar Konstanten: Weiterhin Social Media, weiterhin auf Englisch, weiterhin mit Blick auf Russland und die Region – über all das bin ich froh. Wer sich für die Arbeit von Coda interessiert, findet mehr bei der taz oder beim NiemanLab – und natürlich bei Facebook, Twitter, Instagram und was immer wir uns sonst noch so an Plattformen aussuchen.

Drei Jahre Moscow Times – sowas wie ein Fazit

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Dass es hier in den letzten Wochen ruhig war, lag daran, dass ich ein bisschen was sortieren musste – erst im Kopf, dann im echten Leben. Fünf Jahre Moskau heißt der Plan, die bisherigen drei habe ich bei der Moscow Times gearbeitet. So einen Abschnitt beendet man nicht ohne Nachdenken. Aber irgendwo zwischen „gehen, wenn’s am schönsten ist“ und „gehen, solange es noch schön ist“ ist der Zeitpunkt jetzt dann doch gekommen: Ende Januar höre ich auf.

Als ich bei der Moscow Times anfing, hatte Russland gerade die Krim annektiert, Boris Nemtsow lebte noch und der Krieg in Syrien war, von Russland aus gesehen, ganz weit weg. Was habe ich seitdem nicht alles gelernt in dieser kleinen, durch und durch unwahrscheinlichen Redaktion. Allem voran, wie man (komplett ohne Budget) einen Social-Media-Auftritt aufbaut, der rund um die Welt und rund um die Uhr funktioniert. Welche Posts für die russischen, für die amerikanischen, für die indischen Leser? Welcher Dreh, welche Uhrzeit? Anfang 2014 hatte die MT keine 50.000 Facebook-Fans, nach einem Jahr waren es schon 500.000. Steiles Wachstum, hohe Motivation.

Überhaupt, die Reichweite, die man mit englischsprachigen Inhalten so erreicht. Das Interesse an Russland wächst und wächst; wer kein Russisch kann und nicht auf Staatsmedien angewiesen sein will, der liest nun einmal die Moscow Times. Solch eine internationale, politisch interessierte Leserschaft zu haben, das ist meistens faszinierend. Nur ganz gelegentlich lässt es einen in Sekundenbruchteilen erblassen. Wie an dem einen Morgen, als dem Artikel über eine Massenschlägerei in einem Krankenhaus versehentlich das „M“ am Anfang der Überschrift fehlte. Ach guck, wie nett, da twittert ein Leser, ob wir uns die Zeile mit dem „Ass Brawl“ nicht noch mal ansehen wollen. Ach guck, es ist der Präsident von Estland.

Ich habe gelernt, woran man Kreml-Trolle bei Facebook erkennt (und wie viel Arbeit es ist, das dann auch zu überprüfen und sie zu blocken). Ich habe von den Englisch-Muttersprachlern im Team so zauberhafte Wendungen gelernt wie „He’s as useful as a chocolate hairdryer“ und, in harten Zeiten, den extrem einleuchtenden Begriff des „seagull management“. Ich habe den Unterschied gelernt zwischen dem, was in der russischen Verfassung drinsteht, und dem, was sie im Alltag auch tatsächlich gewährleistet.

Ich habe gelernt, nicht öfter als dreimal pro Woche zu fragen, ob wir an dem Bild, das wir da gerade verwenden, denn wohl auch die Rechte haben. Ich habe so, so viel über die russische Sprache gelernt. Ich habe gelernt, dass der große Mailverteiler (alle Kollegen nicht nur bei der Moscow Times, sondern im ganzen Gebäude, mit Vedomosti, Cosmopolitan usw.) dazu da ist, darüber informiert zu werden, wenn es besonders günstigen Honig oder besonders günstigen Kaviar zu kaufen gibt („Hast du den Preis für Kaviar gesehen? Bei Reuters kriegen sie ihn deutlich billiger, hat X erzählt.“)

Ich habe gelernt, Rosselkhoznadzor, Roskomnadzor und Rostechnadzor auseinander zu halten. Ich habe gelernt, dass die Standard-Anrede im Newsroom „Dude“ ist und „Katrin“ von all den anderen Dudes konsequent auf der zweiten Silbe betont wird. Ich habe gelernt, wie wichtig in einem autoritären Staat mit permanentem Druck auf die wenigen unabhängigen Medien ein Chefredakteur mit Rückgrat ist – einer, der nicht sagt „das können wir nicht schreiben“, sondern nur: „Wenn du das nächste Mal sowas schreibst, sag mir vorher Bescheid, dann bin ich vorbereitet.“ Ich habe gelernt, dass man jedes Live-Blog eines Putin-Auftritts mit viel Luft planen muss. Beginn: definitiv verspätet. Ende: komplett unplanbar.

Die Moscow Times ist ein Durchlauferhitzer. Die Mehrheit meiner Kollegen ist deutlich jünger, für sie ist es einer der ersten Jobs nach der Uni, manchmal der erste überhaupt. Mit, zwei, drei Jahren MT im Lebenslauf stehen einem dann viele Türen offen: Neulich habe ich eine Twitterliste gebastelt mit Ex-MT-Leuten, und wenn man sieht, wo die inzwischen überall sind, von New York Times bis Buzz Feed, von AFP bis Washington Post, dann ist das schon ziemlich beeindruckend – und ich bin stolz, mich da einreihen zu dürfen.

Welches neue Medium in dieser Twitterliste bald hinter meinem Namen steht, muss sich finden. Ich habe nach drei Jahren mit drei Chefredakteuren erst mal nur ganz grundsätzlich beschlossen, dass es Zeit für etwas Neues ist. Neue Kollegen, so großartig die aktuellen auch sind. Neue Projekte, die aber hoffentlich weiterhin mit Journalismus und Russland zu tun haben. Ein bisschen weiß ich schon, in welche Richtung es gehen soll, anderes muss sich finden. Zwei Jahre in Moskau bleiben noch.

Das Tass-Archiv auf Instagram


Das sollte einer dieser Arbeitstage werden, wo man so richtig was wegschafft. Ein fleißiger Dienstag, an dem erst mal ordentlich Facebook-Kommentare moderiert werden, dann „On this day“-Kalenderblätter recherchiert und geschrieben, auf Vorrat, mindestens bis Monatsende.

Danach Mails, anschließend mal gucken, welche Kollegen-Accounts bei Twitter zum Verifizieren eingereicht werden sollen. Bisschen Planung für morgen, denn Mittwoch ist Produktionstag bei der Moscow Times, da gibt es immer so ein paar Grafiken, die auch bei Social Media ganz gut…

Nun ja.

Kurz nach den Facebook-Kommentaren und noch vor den Kalenderblättern ist was dazwischen gekommen. Ein Tweet nämlich, in dem ein Moskauer Kollege auf ein TASS-Archivbild hinwies. Mit Hashtag. Dem man ja mal folgen könnte, erst bei Twitter, dann weiter drüben bei Instagram.

Eine Stunde später ist dieser Blogpost fertig – weil solche Bilder bestimmt auch für andere faszinierend sind. Die TASS ist im Staatsbesitz, die Inszenierung von sowjetischer und russischer Wirklichkeit auf ihren Fotos fällt also manchmal eher idyllisch als kritisch aus. Mit diesem Wissen im Hinterkopf ist der Hashtag архив_тасс aber durchaus interessant:

Einer der Moskauer Zuckerbäckerbauten in den Fünfzigern, effektvoll beleuchtet.


Studenten der Lomonossow-Universität als begeistertes Publikum einer Rede von Fidel Castro.


Ein Ausflug ins Neuland der Telekommunikation. Aufgenommen wurde das Bild in einer Fabrik in Riga, und natürlich passt das Haarband perfekt zur präsentierten Produktreihe.


Bären und Schnee – zwei Russlandklischees auf einmal abgehakt!


Mode im Herbst 1975 (Die Haare! Der Eyeliner!). Und täusche ich mich, oder wurde mehr Herbstlaub fotografiert, als das mit den Farbfotos noch neu und aufregend war?


Ein Mann bringt 1979 in einem Überschwemmungsgebiet in Baschkortostan gerettete Hasen in Sicherheit. In Uniform. Natürlich.


Vereiste Wimpern, gefrorene Atemluft am Schal: Eine Vorstellung davon, wie kalt es in der Region Krasnojarsk wird, gibt dieses Bild aus dem Jahr 1988.


In den russischen Krisenzeiten Anfang der Neunziger versucht ein Junge, als Autowäscher am Straßenrand Geld zu verdienen.

Doku-Tipp: Transmoskva

Transmoskva Coda Vika

Eine kurze Phase von Tauwetter und Toleranz, dann zurück zu Diskriminierung und Verfolgung – so stellen sich die letzten Jahrzehnte in Russland für Menschen dar, die schwul, lesbisch, bisexuell oder transgender sind.

Wenn ein Gesetz das „Werben für nicht-traditionelle sexuelle Beziehungen“ verbietet und die Regierung den Schulterschluss mit der nicht als liberal bekannten Orthodoxen Kirche übt, entsteht ein erschreckendes Klima: Laut einer Umfrage aus dem Herbst wollen 37 Prozent der Befragten, dass Menschen, die nicht den im Russland tief gefestigten sexuellen Rollenbildern entsprechen, aus der Gesellschaft ausgegrenzt werden. 21 Prozent fordern gar deren „Liquidierung“. Der Hass ist mehrheitsfähig.

Wie viel Mut es bedeutet, in solch einem Klima als Transfrau in Russland zu leben, zeigt Vika, die zu Beginn dieser Doku-Reihe als Fahrerin in Moskau arbeitet und gerade das Geld zusammen hat für eine OP, nach der ihr Gesicht femininer aussehen soll. Pascal Dumont hat sie begleitet und daraus die vierteilige Web-Dokumentation „Transmoskva“ gedreht. 

Vier kurze, eindringliche Folgen erscheinen derzeit im Wochentakt bei Coda, einem englischsprachigen Projekt, das hintergründigen, themenzentrierten Journalismus macht. #LGBTcrisis hat das Team seinen ersten Schwerpunkt betitelt, zu dem ein Bericht über die  Hilfsorganisation „Deti 404“ und eine Analyse des russischen Propagandabegriffs „Gayropa“ gehören. Und eben „Transmoskva“, dessen zweite Folge gerade veröffentlicht wurde. Knapp sechs Minuten ist sie lang – und lohnt sich.

Mehr tun für Journalistinnen

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Erster Februar, der klassische Termin für gute Vorsätze. Zum Jahreswechsel hat Mina vorgelegt und über ihren Vorsatz gebloggt, 2016 weniger zu reden und mehr zu tun. Anderen zu Gehör zu verhelfen, die bisher noch nicht so oft gehört werden und sich erst etablieren müssen. Ihnen bietet sie konkrete Hilfe an: beim Entwickeln einer Präsentation, als Mitrednerin auf dem Podium, durch Erfahrungsaustausch.

Ich hab das gelesen und zwei Sachen gedacht. Erst: „Das könntest Du auch mal machen.“ Dann: „Das ist eigentlich sogar längst überfällig.“

Hier sollte nun also eigentlich ein längerer Motivationsabsatz stehen. Dass ich mir meiner Privilegien bewusst bin, die ich per Geburt mitbekommen habe. Dass mir vieles an Diskriminierung, die andere ausbremst, erspart geblieben ist. Dass mir beim Start in den Journalismus einige Leute geholfen haben, die das nicht hätten tun müssen – mit Rat, Kontakten oder einfach, indem sie mir einen Text, ein Thema, eine Aufgabe zugetraut haben.

Der Absatz wäre noch um einiges länger geworden. Aber die Kurzfassung ist eigentlich: Wer guten Journalismus will, muss gute Journalisten fördern. Und wer will, dass im Journalismus Frauen voran und endlich auch öfter nach oben kommen, der fördert Journalistinnen. Also, mein Angebot für 2016:

Einmal im Monat kann ich mir für ein Projekt von einer von euch Zeit nehmen. Vielleicht ist es die eine, große Geschichte, an der ihr immer wieder recherchiert habt, und die jetzt dringend mal jemand gegenlesen muss, der noch nicht so tief im Thema ist. Vielleicht wollt ihr ein Bewerbungsgespräch schon mal durchspielen, ehe es ernst wird. Oder einfach wen auf die Mappe mit den Arbeitsproben schauen lassen, der sich schon durch den einen oder anderen Stapel solcher Mappen gearbeitet und ein paar Jahrgänge Volos im Assessment-Center ausgesucht hat.

Kriterien? Abgesehen davon, dass es Frauen sein sollen, habe ich keine. Eher solltet ihr welche haben: Zum Themengebiet rund um Print, Nachrichtenagenturen, Online, Social Media kann ich sicher was Brauchbares beitragen, bei Radio und TV kommt es auf die konkrete Frage an. Auch über Stipendien und Auslandsaufenthalte können wir gerne reden.

Voraussetzung ist erst mal nur, dass ihr euch meldet, per Twitter oder per Kommentar hier unter diesem Blogpost. Den schalte ich dann nicht frei, sondern melde mich zurück.

Ich bin gespannt.

(Das Gemälde oben heißt „Колледж Девочек“ (Studentinnen), ist von Konstantin Istomin und hängt in der Neuen Tretjakowgalerie.)

 

Woher kommen die russischen Berliner?

Das Datenjournalismus-Team der Berliner Morgenpost hat mal wieder ordentlich vorgelegt. Die Truppe rund um Julius Tröger entwickelt regelmäßig Projekte, bei denen aus Datensätzen spannender, hintergründiger Lokaljournalismus wird.

Der Flugrouten-Radar, bald zwei Jahre alt und damals richtungweisend für Datenjournalismus in Deutschland. Die beunruhigende Ausbreitung von Masern-Infektionen in der Hauptstadt. Berlin als zweigeteilte Stadt – zwischen den Fans von Hertha BSC und Union Berlin. Viele, immer neue Blicke auf den Berliner Wohnungsmarkt. Und jetzt eben: der Zugezogenen-Atlas.

Zugezogenen-Atlas – Woher die Berliner wirklich kommen

Treffen sich zwei Berliner auf der Straße, dann ist – jedenfalls wenn sie sich an die Statistik halten – einer von ihnen ein Zugezogener. Aus einer anderen Stadt, einem anderen Bundesland, einem anderen Staat, einem anderen Kontinent. Für mich ist natürlich vor allem der Russland-Aspekt interessant, und siehe da: Sortiert man die Städte der Welt danach, wie viele Berliner dort geboren sind, dann taucht auf Platz 25 Moskau auf.

Urban, westlich geprägt, wohlhabender als der Landesdurchschnitt – man kann sich vorstellen, warum Moskoviter den Wechsel nach Berlin attraktiv finden. Aber die russische Zuwanderung nach Berlin ist kein Hauptstadt-zu-Hauptstadt-Phänomen, wie die Rohdaten hinter dem Zugezogenen-Atlas beweist.

Daraus lässt sich leicht eine Karte basteln, die die Heimatorte der russischen Berliner zeigt – per Klick auf den jeweiligen roten Marker lassen sich Stadtname und die Zahl der hierher stammenden Berliner anzeigen.

Ein paar Regionen sind dabei über Moskau hinaus besonders bemerkenswert. Kalinigrad ist der Geburtsort fast 2800 heutiger Berliner, zusammen mit den nahe gelegenen Städten Sowetsk (Tilsit), Tschernjachowsk und Gussew (Gumbinnen) sind es sogar 3751 Berliner, die aus dieser Ecke kommen.

Ein anderes Grüppchen bilden die Städte Krasnodar und Rostow-am-Don: In die Schwarzmeer-Region wanderten unter Katharina der Großen viele Deutsche aus, die später von dort als Spätaussiedler zurück nach Deutschland kamen. Wolgograd, Saratow, Samara – die Nachkommen der Wolgadeutschen? Wobei Angehörige beider Gruppen unter Stalin ja deportiert wurden, etwa nach Sibirien oder ins heutige Kasachstan.

Interessant wäre sicher auch ein Blick darauf, welche Rolle jüdische Kontingentflüchtlinge unter den Menschen spielen, die aus russischen Städten nach Berlin gekommen sind – schließlich ist die Hauptstadt-Gemeinde eine der größten im Land.

Die Zentralwohlfahrtstelle der Juden hat zwar keine Daten dazu vorliegen, aus welchen russischen Städten besonders viele Menschen nach Deutschland gekommen sind, „aber aus unseren Erfahrungen wissen wir, dass vor allem die Menschen aus den Großstädten kommen,“ heißt es aus der Pressestelle. Moskau und Sankt Petersburg, aber auch Nowosibirsk, Samara, Omsk, Tscheljabinsk und Rostow-am-Don gehören zu den zehn russischen Städten mit der höchsten Einwohnerzahl. Insgesamt sind es mehr als 10.000 Menschen aus diesen Städten, die heute Berliner sind.

Warum allerdings Metropolen wie Jekaterinburg, Nischni Nowgorod oder Kasan in der Statistik nicht auftauchen, dafür aber deutlich kleinere Städte wie Kopeisk, Naltschik und Prokopjewsk, das kann ich mir aus dem Stand nicht erklären. Vielleicht kommt einem, wenn man einmal in einer russischen Großstadt gelebt hat, Berlin einfach zu klein vor? Wer einen Erklärungsansatz hat, bei dem das Hauptstadt-Ego weniger ramponiert wird, kann ihn ja in den Kommentaren hinterlassen. Ich bin gespannt.

Doschd macht unabhängiges Fernsehen für Russland

Kein Schild an der Tür, kein Logo an der Hauswand, keine Fahnen auf dem Dach. Klar, die Adresse des unabhängigen Fernsehsenders Doschd steht auf der Homepage, sie ist kein Geheimnis. Aber das  Moskauer „Flakon“-Gelände ist groß, ein Gebäude geht über ins nächste. Zweimal müssen wir telefonieren, ehe Fatima und ich uns schließlich finden und sie mich mit ins Haus nimmt. Keine Laufkundschaft, keine Zufallsbesucher. Zu Doschd muss man wollen.

Drinnen herrscht die typischen Ästhetik, die man aus umgenutzten Industriegebäuden kennt: Hohe Decke, freiliegende Leitungen, darunter reihenweise Tische. Die meisten Menschen, die hier arbeiten, sind jung – und umgeben von einer Deko in Knallpink, wie das Doschd-Logo. Redaktion, Technik, Marketing, selbst Senderchefin Natalja Sindejewa, alle sitzen sie hier zusammen im Großraum.

Doschd Rosen

 

Gut fünf Jahre gibt es den Sender jetzt,  er hat – bei laufendem Sendebetrieb – bereits mehrere Umzüge hinter sich, oft unfreiwillig. Zwischenzeitlich kam das Programm sogar aus einer Privatwohnung. Da ist die aktuelle Adresse auf dem Gelände einer alten Glasfabrik dann doch um einiges praktischer. Demnächst, sagt Fatima, dann sogar mit Hinweisschild.

Die Positionierung des Senders ist klar: RT und Sputnik meldeten vergangene Woche Putins Rekord-Umfragewerte ohne Einordnung oder gar Kritik – bei Doschd kam zu den Zahlen auch Alexei Nawalny zu Wort, der die Werte für manipuliert hält. Wenn Putin seine jährliche Fragestunde abhält, machen Vertreter russischer Staatsmedien gerne mal den Stichwortgeber – Xenija Sobtschak, eines der bekanntesten Doschd-Gesichter, fragte ihn 2014 nach der Lage in Tschetschenien und nach Kampagnen gegen Oppositionelle. Prominente russische Politiker machen Stimmung gegen Schwule und Lesben, Homophobie ist hier inzwischen mehrheitsfähig – im Onlineshop von Doschd gibt es T-Shirts mit der Aufschrift „Alle unterschiedlich. Alle gleichberechtigt.“

Doschd Regiestühle

 

2014 musste der Sender nicht nur den Standort, sondern auch seinen Verbreitungsweg wechseln. Auf seiner Website hatte Doschd im Januar die Nutzer gefragt, ob Leningrad im Zweiten Weltkrieg hätte früher kapitulieren sollen, um die Leben der Einwohner zu retten, die während der mehrjährigen Belagerung durch Bomben, Hunger und Kälte starben.

Unter politischem Druck nahm Trikolor, der Betreiber des Senders, ihn kurz darauf aus seinem Angebot. Über Satellit ist Doschd seitdem in Russland nicht mehr zu empfangen, die meisten Zuschauer schalten nun den Livestream im Web ein, andere gucken via digitales Kabelnetz.

In der Redaktion herrscht an diesem Abend die typische Mischung aus Konzentration und Gewusel. Aus einem der Studios wird gerade gesendet, während der Werbepause läuft jemand am Greenscreen nebenan vorbei Richtung Zigarettenpause. Nur gelegentlich guckt einer von Fatimas Kollegen hoch, wenn wir an seinem Tisch entlanggehen. Besuch ist hier nichts Besonderes, für Journalistengruppen aus dem Ausland ist Doschd ein beliebtes Ziel.

Doschd Redaktion

 

Russlands Rolle in der Ukraine und in Syrien haben im Land ein Klima geschaffen, in dem Medien daran gemessen werden, ob sie „patriotisch“ sind. Der Begriff der Fünften Kolonne für Kritiker aus den eigenen Reihen ist auf einmal wieder populär. Das Staatsfernsehen kann sich über großzügige Budgets freuen, doch wer kritisch berichtet, ist auf die Buchungen seiner Werbekunden angewiesen. Eine weitere Einnahmequelle von Doschd sind die Abogebühren der Zuschauer, die für ein Jahr Webfernsehen derzeit 4800 Rubel zahlen, also knapp 70 Euro.

Noch vorbei an der Wand mit den vielen Auszeichnungen, die Doschd schon eingesammelt hat, dann stehen wir wieder an der Tür ins Freie. Ich bin nach Feierabend hierher gekommen, für Fatima und ihre Kollegen geht der Arbeitstag nach unserem Treffen noch weiter. Gleich beginnt das Finanzmagazin „Geld“, anschließend läuft die Nachrichtensendung „Hier und Jetzt“. Es ist voll im Großraumbüro, immer noch, der Abend wird lang. Wer hier arbeitet, tut das nicht wegen des Gehalts. Zu Doschd muss man wollen.

Dank F. habe ich drei Gutscheine, mit denen man das Programm von Doschd online zehn Tage umsonst gucken kann. Wer als erstes sein Interesse in den Kommentaren bekundet, kann einen haben.

Mein Chor, mein Moskau, meine Katakomben

Sänger kommen dahin, wo andere nicht hinkommen. Ob Proben oder Auftritt, der Chor darf in die Hinterzimmer, die Katakomben, die Bereiche für Befugte. Zwischen Einschulung und Abitur hätte man mich mit verbundenen Augen und Watte in den Ohren in den Keller der Hildener Stadthalle schicken können und ich hätte trotzdem gewusst, wo ich zum Einsingen hin muss – oder, im Karneval, zum Schminken. Unser Eingang war der auf der Rückseite, wo auch die Feuerwehrleute ihr Kabuff hatten.

Bis heute gilt darum: Klar, in den Konzertsaal kommt jedermann rein, für den Preis eines Tickets. Aber wir sind die, die sich hinter der Bühne rumdrücken, wo in einem halben Dutzend Sprachen „bitte Ruhe“ an der Wand steht. Wir kennen den schnellsten Weg von ganz oben auf der Orgelempore nach ganz unten in den Orchesterprobensaal, zu dem wir natürlich nie etwas anderes sagen würden als OPS. Wir machen auf dieser Bühne unsere Stellprobe und unsere Hauptprobe, am nächsten Tag die Generalprobe mit Lichtprobe und am Tag drauf, kurz vorm Konzert, noch eine schnelle Anspielprobe. Danke, wir wissen, wo wir stehen. Das hier gehört uns.

Diese Art, von einem Ort Besitz zu ergreifen, ist von Stadt zu Stadt geblieben. Edinburgh gehört mir ein bisschen mehr wegen eines „Messias“ in St. Giles‘ Cathedral, Köln wegen eines „Roberto Devereux“ in der Philharmonie, Berlin wegen eines Konzertes im Dom, von dem ich nur noch weiß, dass es irgendwie um Wasser und Fluten ging und dass wir eine besonders kreative Aufstellung hatten.

In England sind es die Royal Albert Hall und Milton Abbey, in Peking irgendein Schulgebäude vor den Toren der Stadt – weil so ein Auftritt, mit der Probenarbeit davor, einem eben eine besondere Berechtigung gibt, sich hier aufzuhalten. Man nimmt am Leben in dieser Stadt mehr als nur oberflächlich teil und muss sich im Gegenzug nicht angesprochen fühlen, wenn Leonard Cohen singt: „Don’t be a tourist.“

Mit dem Moscow International Choir zu musizieren bedeutete bisher vor allem Besitzansprüche auf die St. Andrew’s Church, wo wir proben und zwei Konzerte im Jahr geben. Dass einigen von uns bald auch der Große Saal des Konservatoriums ein klein wenig gehören wird, sorgt seit Wochen für vorfreudiges Grundrauschen (und sehr viel diszipliniertere Proben). Und gestern Abend gab es noch was obendrauf: eine Probe da, wo unser Dirigent sonst mit seinem anderen Ensemble auftritt, in Moskaus riesiger, prächtiger Christ-Erlöser-Kathedrale.

Nicht im Kirchenschiff, da kann ja jeder rein, der ein Kopftuch anzieht und sich ein bisschen von den missmutigen Wachmännern anraunzen lässt. Nein, in den Gewölben unter der Kirche, wo im Gang gerade frisch gestrichen wird, wo eine Art Jugendherbergsküche auf die Mitarbeiter des Patriarchen wartet und wo vier von unseren Bässen noch kurz abgeworben werden, um ein golden gerahmtes Bild von A nach B zu schleppen. Kein so schlechter Ort. Der gehört jetzt also auch uns.

Digitaler Journalismus im Zentralen Telegrafenamt

Zentrales Telegrafenamt Moskau

Da saßen wir also, reihenweise Journalisten, und hörten Referenten vom Guardian und vom Calvert Journal zu. Der Guardian macht derzeit eine Moskau-Woche (letztes Jahr gab es sowas schon mal mit Mumbai), und heute sollte es um Journalismus gehen: Welche Stereotypen westliche Medien nach Ansicht russischer Journalisten über deren Land verbreiten (Wodka, Kriminalität, Expansionismus, Dashcam-Videos) und umgekehrt. Was für Erzählformen sich online in letzter Zeit entwickelt haben. Wie man englischsprachigen Medien Themen anbietet. Was ein guter Einstieg ist. Wie Social Media hilft, die Reichweite zu steigern (selbst dann, wenn Dein Hashtag gekapert wird).

Vieles war sehr grundlegend, aber die Zielgruppe waren auch eher Berufseinsteiger, darunter eine ganze Gruppe Journalismus-Studenten. Da konnte man also zwischendurch gut mal ein wenig durchs Gebäude stromern und staunen.

Denn „DI Telegraf“ ist heute ein Veranstaltungsort und Coworking Space, aber früher war der Zwanzigerjahre-Bau an der Twerskaja das Zentrale Telegrafenamt. Als die Bürger der Sowjetunion Ende Juni 1941 übers Radio vom Angriff Hitlerdeutschlands auf ihr Land erfuhren, saß Molotow in diesem Gebäude und sprach zu ihnen.

Seltsam, dass ein solcher Gebäudekomplex in dieser Lage nicht längst ein Einkaufszentrum, ein Hotel oder der Hauptsitz einer Immobilienfirma ist. Seltsam, aber schön – denn das Gebäude mit seinem industriellen Charme, den freiliegenden Ziegelwänden und dem rauen Putz ist rundum sehenswert.

Wer nach den Fotos Lust bekommen hat: Man kann da einfach reingehen – am Portier vorbei, als gehörte man hierher, dann mit dem Aufzug in den 5. Stock. Der Eingang ist in einer Seitenstraße, dem Gasjetni Pereulok. Auch, wenn die nach Zeitungen benannt ist statt nach Radio oder Digitalem.

Opa Günter

Opa Günter

Vieles an der Art, wie Moskau derzeit an das Ende des Zweiten Weltkriegs erinnert, fühlt sich seltsam an. Das Säbelrasseln, oder was immer da heute so rasselt, wenn tagelang Panzer und Raketen durch die Straßen rollen, damit am Samstag bei der Parade alles klappt. Das Branding, bei dem wirklich alles mit St.-Georgs-Bändern verziert und beworben wird, bis hin zur Wodkaflasche im Supermarkt.

Das Stalin-Revival, das hier parallel betrieben wird und zu dem kritische Stimmen selten sind. Die Militarisierung von Kleidung, wenn Kindergartenkinder sich von ihren Eltern erfolgreich eine Soldatenmütze vom Straßenhändler erquengeln. Der gar nicht so latente Druck, dass das die einzig wahre Art des Gedenkens ist und man da mitzumachen hat (dazu die Tage noch ein eigener Blogpost.)

Wir haben uns in der Redaktion einen anderen Ansatz ausgesucht, und ich finde, er passt zu einem Team aus einem halben Dutzend Nationalitäten in dieser Generation und noch deutlich mehr, wenn wir ein, zwei Generationen zurückgehen.

Ich wusste nicht, dass Matt aus dem Wirtschaftsressort polnische Vorfahren hatte (die später als Italiener getarnt über Venezuela in die USA ausgewandert sind und dort dann Angst vor McCarthys Hexenjagd hatten). Ich wusste nicht, dass der Opa unseres Chefredakteurs einen Backstein aus der Reichstagsmauer mit zurück nach Dagestan genommen hat. Und auch die Geschichte meines Kollegen Sam, dessen Urgroßvater als einer der letzten Amerikaner im Mai 1945 in Deutschland starb, kannte ich vorher nicht. Wieso eigentlich nicht? Wenn wir schon das Privileg haben in einem Team aus Menschen zu arbeiten, die von beiden Seiten des Eisernen Vorhangs stammen und aus Ländern, die im Zweiten Weltkrieg gegeneinander gekämpft haben – warum reden wir so wenig darüber?

Opa Günter, der Vater meines Vaters, ist ein paar Tage nach meiner Konfirmation gestorben. Dass seine Enkelin mal für eine russische Zeitung auf Englisch ein Stück seiner Lebensgeschichte aufschreiben würde – ich glaube, das hätte ihn in seiner Unwahrscheinlichkeit genau so zum Lachen gebracht wie ein Zeitungsbericht im Lokalteil, in dem irgendwann in den Achtzigern mal stand, die Nazis hätten ihn erschossen. Nicht, dass sie es nicht versucht hätten – aber diese Folgen konnten sie ja auch nicht absehen.