5 Jahre in Russland: Was fehlen wird und was nicht

Heute ist er da, der Heimflugtag nach fünf Jahren Leben in Russland. In den letzten Tagen war viel Abschiedsfeiern, Tränenwegwischen und Schwelgen in Erinnerungen. Das wäre noch mal ein ganzes Stück härter gewesen, wenn nicht russischer Braindrain und deutsche Arbeitgeber zuletzt dafür gesorgt hätten, dass viele Freunde Moskau schon verlassen haben, einige sogar nach Berlin.

Und ja, vielleicht habe ich es mir in den letzten Wochen auch ein bisschen leichter gemacht mit dem Abschied, indem ich laut vor mich hingemoppert habe über alles, was hier nervt. Allein: Es drängelt sich halt immer wieder Schönes in den Vordergrund und erinnert daran: Das wirst du so in Berlin nicht mehr haben, nicht mehr erleben können.

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Was mir nicht fehlen wird: Die dreckige Moskauer Luft, durch die jede Erkältung vier Wochen dauert. Die Bürokratie, in der niemand Verantwortung für irgendwas übernehmen mag. Das Verzögern und Schikanieren, wenn man ein wichtiges Dokument braucht und nur Bittsteller sein kann und abwarten. Die maulfaulen, missmutigen Nichtzurückgrüßer. Der fehlende Augenkontakt. Dass die Stadt trotz einiger Umbauten immer noch den Autofahrern gehört und man als Fußgänger sich danach zu richten hat.

Was mir fehlen wird: Die oft nicht mehr ganz jungen Damen, die von der altehrwürdigen Tretjakowgalerie bis zum Heimatmuseum hier alle Museen regieren, streng aber gerecht, und mit viel Fachwissen. Das Gefühl von Triumph, wenn du im Bus mithörst, was jemand neben dir ins Telefon erzählt, und dann merkst: Moment, das war ja Russisch, und ich hab jedes Wort verstanden. Mit Freunden zusammen Musik machen und dabei dorthin kommen, wo nicht jeder hindarf, zum Beispiel im Konservatorium oder in der Erlöserkathedrale. Überhaupt: Die rotgoldene Plüschomanie, vor allem da, wo Kultur stattfindet.

Was mir nicht fehlen wird: Der Rassismus, der oft nicht mal als solcher erkannt wird: „Ich war neulich bei euch in Deutschland, in Freiburg. Schöne Stadt, aber die ganzen Schwarzen!“ Dasselbe, nur für Schwulenfeindlichkeit: „Was, ihr nehmt einen Ballettänzer bei euch auf? Hast du keine Angst, dass der deinen Mann… du weißt schon?“ Militärparaden und Kwaspatriotismus. Kleine Jungs in Tarnfleck und kleine Mädchen in Prinzessinnenpink, die schon vor der Einschulung die gängigen Brust-raus-Schmollmund-Posen für Instagram beigebracht bekommen.

Was mir fehlen wird: Sowjetisches Design und die zeitlose Sachlichkeit, mit der hier Geschäfte benannt werden: Dom Knigi, Haus des Buchs. Mir zwetow, Blumenwelt. Moshostorg, Moshaushand (Moskauer Haushaltswarenhandlung). Dass es für jeden Vornamen (z.B. Katrin) zig Kosenemanevarianten gibt (Katjuscha, Katja, Katjona, Katerinka) und dazu dann noch eine eilige Rufnamenvariante: Kat! Dass es komplett legitim ist, seinen Partner, wenn er denn männlich ist, „Pupsik“ zu nennen.

Was mir nicht fehlen wird: Die Haltung, dass man als Ausländer hier bitte nichts zu kritisieren hat – wem was nichts passt, der kann ja gehen. Die Ratschläge, die einem vom Ömchen bis zum Taxifahrer jeder gibt – vor allem als Frau. Das Gefühl, wenn man sich als Deutsche zu erkennen gibt, der Gegenüber ein zustimmendes Geräusch macht und man nicht weiß: Sagt er als nächstes „Ich hab Rammstein mal live gesehen“ oder doch „Hitler hat auch vieles richtig gemacht“?

Was mir fehlen wird: Die Leute, die einen überraschen mit ihrer Reaktion, wenn man sich als Deutsche zu erkennen gibt: Oh, Peter Zadek! Oh, Friedrich Engels! Oh, Tic Tac Toe! Wobei, das war in der Ukraine. Apropos: Wie viele andere Länder man von Moskau aus entdecken kann: Die Ukraine eben, dann Armenien, wo die Kirchen aussehen wie Burgen und das Alphabet wie ein U neben dem anderen. Georgien, das Land mit der guten Küche. Aserbaidschan, wo man lernt, was ein Schlammvulkan ist. Kirgistan, Usbekistan – und hey, Kasachstan, irgendwas wird das mit uns auch noch mal was.

Was mir nicht fehlen wird: Die Staus, zur Rushhour morgens und abends und dann noch mal mittig dazwischen. Das Desinteresse am Umweltschutz – seien es jetzt wartende Autos mit laufendem Motor, keinerlei Mülltrennung oder die Tatsache, dass ich in fünf Jahren hier nur drei Orte gefunden habe, an denen man alte Batterien entsorgen kann: im Goethe-Institut, bei Ikea und im hippen Museum „Garage.“ Dass es im Winter mal zu kalt ist, mal zu warm, und dazwischen fällt man ständig hin.

Was mir fehlen wird: Die Frau an der Supermarktkasse, die, nachdem ich monatelang mehrfach pro Woche „Nein, danke, ich brauche keine Plastiktüte“ gesagt habe, ihre Kollegin irgendwann anranzt, als die mir wieder eine Tüte aufnötigen will: „Verstehst du denn nicht? Es geht hier um Ö!Ko!Lo!Gie!“ Das Gefühl wie im Studentenwohnheim, wenn die Hälfte deiner Freunde auf demselben Gelände wohnt wie du. Das kollegiale „Kannst du mir das mal einsprechen?“ und „Ich kann dir das auch gern gegenlesen.“ Die Metro, vor allem die Haltestellen Komsomolskaja, Dostojewskaja, Majakowskaja und Nowoslobodskaja. Die Stelle, wo die hellblaue Metrolinie kurz aus dem Untergrund auftaucht, bei Tageslicht über die Moskwa fährt und dann wieder verschwindet.

Was mir fehlen wird: Mit Freunden unter freiem Himmel Plow kochen im Kasan, und dann so lange draußen sitzen, bis auch das letzte Bier getrunken und die letzte Mücke satt ist. Russlands Nicht-Metropolen (also weder Moskau noch St. Petersburg), wo alles etwas langsamer ist, weniger hochglanzig, weniger blinkreklamig. Fernzug fahren und auf Birken gucken. Elektritschka fahren und gucken, was da heute so verkauft wird – Socken? Eis? Kalender? Plötzlich halbwegs Ahnung von Ballett zu haben. Zu wissen, was man beim Fußball zum Anfeuern ruft und was beim Eishockey.

Was mir fehlen wird: Die Gastfreundschaft, die ab dem Moment greift, wo man auch nur einen gemeinsamen Bekannten hat – und dann in kurzer Zeit ausufert, von „hier, ein Apfel aus meinem Garten“ zu „Ich hab mal eben deine restlichen fünf Urlaubstage für dich geplant, morgen früh um 8 hol ich dich ab.“ Die absurden Denkmäler – Ehre dem Kabeljau – die man hier manchmal findet. Das Alte neben dem Neuen. Das Gefühl, wenn man von irgendwo auf Moskau herabguckt, vor allem abends. Das ständige Feuerwerk. Die Beleuchterei.

Tag des Flauschverteidigers

Was sich geändert hat in den knapp drei Jahren, seit Russland die Krim annektiert hat: Die Karten zum 23. Februar sind weniger martialisch geworden. Ja, der Feiertag heißt immer noch „Tag des Vaterlandsverteidigers“, es ist schul- und für die meisten auch arbeitsfrei. Betritt ein Mann an diesem Tag ein Café oder ein Geschäft, darf er sich auf Glückwünsche einstellen. Egal, ob er tatsächlich Soldat ist oder doch eher Sachbearbeiter, Hausmann, Lehrer oder Automechaniker: jeder ein Vaterlandsverteidiger, potenziell.

2015 sahen die Grußkarten im Dom Knigi, dem großen Buchladen, noch so aus wie diese hier. Panzer, Nationalfarben, Militarismus. Auch gerne genommen: Kampfflugzeuge, Orden und andere Ehrenzeichen, Georgsbänder und rote Sterne.

2017, derselbe Buchladen. Noch immer hängt über der Information ein gerahmtes Putin-Porträt, an vaterländischem Enthusiasmus scheint es also nicht zu fehlen. Doch die Grußkarten sind diesmal anders. Weiß-rot-blaue Girlanden gibt es noch gelegentlich, für Traditionalisten auch Nelken, hier und da Tarnfleck. Panzer, Raketen oder Kampfjets hingegen finden sich keine, das Design ist durch die Bank weniger martialisch. Ziviler. Flauschiger.

Eine kleine Auswahl, willkürlich zusammengestellt und gekauft – und doch sagt sie viel aus mit ihren Kuschelkatzen, dem durch und durch zivilen Anzug, den betont verspielten Schrifttypen. Selbst vom „Tag des Vaterlandsverteidigers“ ist nur auf einer von ihnen die Rede, die anderen belassen es beim 23. Februar oder paraphraseln was vom „Tag der echten Männer“.

Und auch der Text in den Karten belässt es bei gelegentlichen Anspielungen aufs Soldatenleben: Neben Glück und Gesundheit sollen sich die Empfänger auch über „regelmäßige Siege“ freuen, über eine „Nachhut“, die ihm den Rücken frei hält.

Besonders eloquent ist das in der Katzen-und-Hund-Karte formuliert: „Auch wenn du keine Uniform trägst, können wir stolz auf dich sein. Durchschnittliche Männer gibt es Millionen, aber solche wie dich nur selten: Stark, mutig, zielgerichtet, immer nach Erfolg strebend. Mögen die Frauen stets mit Liebe auf dich blicken, gebannt vor Begeisterung!“

(Wem das alles zu verweichlicht ist: Zur Vorbereitung auf den 9. Mai bietet ein Moskauer Kindergarten Eltern an, ihren Nachwuchs in Uniform und mit Waffen fotografieren zu lassen.)

Regeneration

Regeneratia

Wenn sich die Fahrkartenverkäuferin ungefragt Mühe gibt und erklärt, warum man nicht dieses Ticket möchte, sondern ein anderes, günstigeres. Wenn am Ziel nicht nur die Sonne scheint und der Himmel blaut, sondern auch eine Kapelle in Matrosenuniform aufspielt. Wenn von einem sowjetischen U-Boot, das hier draußen dockt, bunte Wimpel flattern und Kinder rein- und rausrennen.

Wenn einem all das auffällt, merkt man erst, welche Erwartungshaltung sich während des langen russischen Winters festgesetzt hat. Es braucht eine bewusste Entscheidung, heute einfach mal zu glauben, dass das Leben auch anders sein kann – einfacher, leichter, lichter. Dann ist man auch gar nicht mehr so überrascht, dass gerade an diesem Tag der Tag der Russischen U-Boot-Flotte ist, also der Eintritt ins kleine Museum kostenlos und das Boot selbst ausnahmsweise ohne Voranmeldung geöffnet.

„Nowosibirsk Komsomoletz“ war ab Anfang der Achtziger fast 20 Jahre im Einsatz; 2003 wurde es in den Norden Moskaus geschleppt und zeigt seitdem im Stadtteil Tuschino sein Innenleben: Torpedos im Torpedoschacht, Schaufensterpuppen in Matrosenposen, aber vor allem Bedienelemente. Hebel und Räder und Knöpfe und Schalter, an denen „Manöver“ steht, „Stop“ oder auch schon mal „Regeneration“, was ein bisschen nach den Borg klingt.

Dass draußen auf einer Bank am Boot später dann noch ein älterer Herr sitzt, der mit Ahnung und Geduld für den kleinen Wortschatz erzählt („…und dann hat Peter der Große ein Papier genommen und geschrieben: Russland soll eine Flotte haben“) – kaum noch eine Überraschung. Heute läuft’s halt. Ja, er sei auch bei den russsichen Streitkräften gewesen – er zieht den Mantel ein wenig von der Brust weg, so dass man darunter bunte Ordensspangen sieht.

Auch Marine also? Nein, bei seiner Einheit haben man sich beschäftigt mit… es folgt ein fremdes Wort. Auf Nachfrage hält er die Hand erst ans Ohr, dann flach oberhalb der Augen: „Wir haben zugehört, und wir haben zugeschaut.“

„Spasskaja Baschnja“, das Moskauer Militärmusikfestival

Spasskaja Baschnja Totale 

Erste Male: ein Militärmusik-Festival ansehen. Und das in diesen Zeiten, wo der nichtmusikalische Teil des russischen Militärs sich gerne mal in der Ukraine aufhält, natürlich nur auf Eigeninitiative im Urlaub oder weil er sich verlaufen hat. Trotzdem zum Festival gehen, geht das? Es geht.

„Spasskaja Baschnja“ heißt das Festival, nach dem Erlöserturm des Kremls, aber um es ausländischen Gästen leicht zu machen, ist auf der englischen Version der Homepage lieber vom „Kremlin Military Tattoo“ die Rede. Ein „großes ‚Schlachtfeld‘ der Bands aus verschiedenen Ländern“ sei das, ein „Kampf um die Liebe und Bewunderung des Publikums„, ein „gut gestimmtes Instrument des internationalen Kulturaustauschs“.

Antreten zum Austreten - Soldaten in historischen Kostümen kurz vor Beginn.
Antreten zum Austreten – Soldaten in historischen Kostümen kurz vor Beginn.

Im Vorprogramm reiten russische Soldaten Dressur auf Trakehnern, können Kinder unter Anleitung eines Clowns eine Kanone abfeuern, posieren Männer in historischen Uniformen für Fotos. Dann also internationaler Kulturaustausch, will sagen: Russlands Kapellen haben sich Verstärkung geholt. Aus Serbien und Armenien, Italien und der Türkei, aus der Schweiz, Irland und Mexiko. Und dafür, dass im Gastgeberland Militarismus und Uniformen zum Alltag gehören, ist das Ergebnis ungefähr das flauschigste Musikfestival aller Zeiten.

Ja, es gibt Märsche, aber dazwischen „Venus“, „Unchain my Heart“, „You’re in the Army now“ und „Bésame mucho“ – nur eben mit jungen Gardesoldaten, die dazu in Formation ihre Gewehre samt Bajonett jonglieren und Salutschüsse abgeben. Ein Posaunist und ein Saxophonist in Traumschiff-tauglichen Uniformen wetteifern in Bigband-Solos. „Katjuscha“ auf Dudelsäcken gehört zum Programm, auch „Korobeiniki„, die Tetris-Melodie. Eine Frau singt von der Liebe zu Moskau. Männer marschieren in Formationen, mal zackig, mal bilden sie ein warm angestrahltes Herz. Wem das noch nicht genug Flausch ist, der kann beim Bauchladenmann eine rote Fleecedecke gegen die Abendkälte kaufen.

Ein Herz für Militärmusik, gebildet von Militärmusikern
Ein Herz für Militärmusik, gebildet von Militärmusikern

Manchmal erinnert es an Jugend im Rheinland. Daran, mit Klarinette in der klammen Händen einem Sankt Martin hinterherzustolpern und sich zu wünschen, es gäbe Regen, weil dann nur die Blechbläser spielen müssten. An Karnevalszüge, zu denen der Farbe halber Gruppen aus anderen Ländern eingeladen werden. Ans Schützenfest, bei dem diese Kapelle aus Serbien sicher der kleinste Teilnehmer gewesen wäre zwischen all den Sankt Sebastianern und Hubertusschützen. Et Trömmelsche jeht heute Abend in Moskau. Manchmal synkopiert es sogar und alle, die gerade noch auf Eins und Drei geklatscht haben, gucken irritiert.

Wer ein Ohr fürs Zeitgeschehen hat, hält nicht nur beim Rhythmuswelchsel inne. Sondern auch, wenn die lautstark bejubelte Kapelle aus Sewastopol auftritt und eine Frau im blauweißen Kleid den „Sewastopol-Walzer“ von der Liebe der Matrosen singt. Wenn die Schweizer Sappeure mit ihren weißen Schürzen nach Gemetzel aussehen. Wenn „The Final Countdown“ erklingt. Wenn der Moderator jede ausländische Gruppe in der Landessprache verabschiedet: „Danke, Freunde, für einen großartigen Auftritt. Wir sehen uns nächstes Jahr.“

Wenn sie denn nächstes Jahr noch kommen. 2012 war hier die Bundeswehr dabei, kamen Polen und Franzosen. Noch 2013 wurden auf der Veranstalter-Seite explizit die teilnehmenden Nato-Staaten genannt, außerdem liefen Österreicher, Finnen und Briten auf.

Die Kasachen jedenfalls, das steht fest, werden wohl auch 2015 keinen Grund haben, nicht zu kommen. Vielleicht spielt ihre Ehrengarde ja dann noch mal „I Like To Move It“.

Wie wir die Moskauer Siegesparade nicht mal ansatzweise sahen

Die besten Orte, um am 9. Mai die große Moskauer Militärparade zu sehen, sind: 1. Die VIP-Tribüne auf dem Roten Platz. 2. Die Pressetribüne. 3. Der Fernsehsessel. 4. Sonstwo auf dem Roten Platz.

Unser Frauengrüppchen ist unterwegs zu Nummer 5: Mit der Metro bis zur Haltestelle Twerskaja, wo es um 9 noch gute Stehplätze in der zweiten Reihe hinterm Absperrgitter gibt.

müllauto Seitenstraßen blockieren die Paradenplaner gerne mal mit geparkten Müllautos, die daraufhin sofort als Aussichts-Plattform umgenutzt werden. Wir sehen auch von hier unten: dunkelgrüne Armee-Gefährte, die ich leichtfertig für Panzer halte.

Die Korrektur kommt kurz darauf via Twitter: Das ist doch self-propelled artillery! Anfängerfehler.

Lang wird uns die Stunde bis zum Beginn nicht, zu interessant ist das Leutegucken. Wieder überall schwarz-orangene Bänder, dazu Russlandfahnen; als die Nicht-Panzer ihre Motoren anwerfen, brandet kurz Jubel auf. Sie rollen weg und es bleibt das, was beim Rosenmontagszug die Putz- und Baggagewagen sind: drei, vier grüne Trumms, die man gut auf einem Abenteuerspielplatz parken könnte. Kein einziges Regiment marschiert vorbei, stattdessen sehen wir das Geschehen auf dem Roten Platz beim netten Nebenmann auf dem Tablet-Bildschirm.

Nein, die Twerskaja ist nicht der beste Ort, wenn man ein Paradengefühl erleben will. Aber als Gegenpol zu den durchchoreografierten Fernsehbildern ist sie genau richtig. Die entspannten Soldaten, die gelangweilten Wachhunde. Der Dreck und Lärm, den solche Motoren machen. Die Zuschauer, die auf ein Gerüst klettern und wieder runtergescheucht werden. Familien, die für den Nachmittag Schaschlik-Pläne schmieden.

6Auch zum Flugzeugegucken stehen wir hier falsch: Dass gerade wieder neue Maschinen der russischen Luftwaffe unterwegs zu uns sind, hören wir nur am Jubel aus den Wohnhäusern gegenüber. Denn die Helikopter, Transport- und Kampfflugzeuge fliegen hinter uns vorbei – bis wir sie sehen, sind sie nur noch kleine Tupfen in Keilformation. Im Herbst gingen sie als Kraniche durch.

Erst, als Putin und die Paradeure Feierabend haben, wird es bei uns noch einmal kurz spektakulär. Denn nun rollen reichlich Fahrzeuge vorbei, mit Raketen (non-self propelled rockets?) hinten drauf oder mit wehenden Fahnen. Sehr nah, sehr grün, und nie ganz zu sehen wegen all der Fotohandys. War’s das jetzt? Das war’s. In der U-Bahn-Haltestelle legt ein alter Mann in Uniform Blumen vor einem Kriegerdenkmal nieder. Wenn ein Bild von heute bleibt, mehr als rollende Militärmaschinerie, ist es das.

veteran

Warten auf die Panzer

– Meinst Du, die kommen noch?
– Weiß nicht, noch ist ganz normaler Verkehr.
– Naja, irgendwann müssen sie ja kommen.
– Vielleicht fahren sie auch wo anders lang.
– Komm, wir gehen schlafen.
– Hm.
– Komm.
– Halbe Stunde noch.

Es ist der 8. Mai, kurz vor Mitternacht. Wir stehen am Wohnzimmerfenster, gucken über den dunklen Innenhof auf den Kutusowskij-Prospekt und warten auf die Panzer.

Angeblich ist unsere Straße manchmal die Zufahrtsstrecke am Abend vor der großen Parade. Unklar, warum die Möglichkeit, dass da gleich Militär durch die eigene Straße rollt, uns wachhält. Irgendwo zwischen gruselig und faszinierend muss der Grund liegen.

Letztlich gewinnt dann aber doch das Bett.