Was bleibt nach zwei Wochen Spätsommerurlaub in Sibirien? Die tiefe Ruhe beim Blick auf den Teletzker See. Das Kratzen im Hals beim Gedanken an die Drecksluft in Nowosibirsk, die fast nach Peking schmeckt. Das perplexe Gefühl zwischen Dankbarkeit und Machtlosigkeit, wenn du plötzlich von netten Tomskern adoptiert wirst, die nun deinen Tagesablauf planen. Die Birken, Birken, Birken, Birken vorm Zugfenster.
Überhaupt der Genuss einer Zugfahrt, die eine eigene Liege, Kopfkissen und Bettdecke mit dem Blick aus dem Fenster vereint. Der von Tag zu Tag schwindende Enthusiasmus, wenn es schon wieder mittelwarme Kascha zum Frühstück gibt. Die Freude über frei herumstromernde Hunde, Kühe, Pferde im Altai. Und eben die ganzen Holzfenster, blau und braun und beige und bunt. Das bleibt.
Odessa oder Odesa, wie heißt das nun richtig? Die Russen schreiben es mit zwei S, die Ukrainer nur mit einem, die Deutschen dafür aber wieder mit zwei, die Briten auch, eigentlich, nur auf den Glastüren am Flughafen steht dann irgendwie doch „Odesa International Airport“.
Ein S, zwei S, vielleicht ist das gar nicht so wichtig. Hauptsache, wir sind hier, was von Moskau aus gar nicht so einfach war. Direktflüge zwischen Russland und der Ukraine gibt es seit drei Jahren nicht mehr, unsere Anreise war also ein Umweg mit zwischenzeitlichem Rumsitzen in Warschau. Der Preis für eine Woche in der Stadt, die bei allen Freunden, die schon mal hier waren, das große Hach auslöst. „Hach, Odessa – da kann keiner einen Satz sagen, ohne dass Humor drin steckt.“- „Hach, Odessa – wie Italien, nur näher.“ – „Hach, Odessa, ich hab selten so gut gegessen.“
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Am ersten Abend direkt mal in die Oper, das wohl schönste Gebäude der Stadt. Groß und opulent, rote Samtsitze und -vorhänge, dazu vergoldete Lampen, vergoldete Decke, vergoldete Brüstungen – vielleicht sollte man besser aufzählen, was nicht vergoldet ist. Trotzdem sind die Karten günstig: 200 Hrywnja, also 6 Euro, für die teuersten Plätze.
Draußen sind es immer noch 28 Grad, drinnen nicht viel weniger. Ein Blick runter in den Orchestergraben: viele Tops mit Spaghettiträgern, einige Hemden, die bis zum dritten Knopf offen sind. Eine Erinnerung, dass Musizieren bei solcher Hitze harte Arbeit ist – auch, wenn man es dem Orchester nicht anhört.
Gespielt wird heute Abend Donizettis „L’elisir d’amore“, allerdings nur im Prinzip, mit umgedeuteter Handlung. Statt um Liebe auf einem italienischen Landgut geht es um Menschen, die verrückt sind nach Aufmerksamkeit, Fernsehruhm, Selfies. Mit großen Tablets machen die Sänger auf der Bühne permanent Fotos voneinander. „Wir haben hier auch eine sehr schöne Treppe“, sagt die Platzanweiserin, als die Pause beginnt, „da können Sie sich gut fotografieren.“
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Es gab Zeiten, da war jeder dritte Mensch, der in Odessa lebte, Jude. Im Handel, in der Kultur und im intellektuellen Leben der Stadt spielte die jüdische Bevölkerung eine wichtige Rolle. Erste Pogrome gab es schon zur Zarenzeit, während des Zweiten Weltkriegs wurden mehrere Hunderttausend Juden in Odessa ermordet. Von „Odessa Mama“ wurde in den Vorkriegsjahren auf Jiddisch so gesungen:
Ver es iz nor nit geven
In der sheyner shtot Odess
Hot di velt gor nit gezeyn
Un er veyst nit fun progress.
Vos mir Vin un vos Pariz,
Blotte, khoyzik, kayn farglaykh,
Nor Odess ot dortn iz
A Gan Eydn, zog ikh aykh.
(Wer noch nicht gewesen ist/in der schönen Stadt Odessa,/hat die Welt nicht gesehen/und weiß nichts vom Fortschritt. Was sind mir Wien und Paris/Unsinn, ein Scherz, kein Vergleich./Nur in Odessa ist/ein Garten Eden, sag ich euch.Eine englische Nachdichtung gibt es hier.) Und weiter: Oy, Odessa Mama, du bist mir endlos lieb und teuer. Oy, Odessa Mama, ach, ich sehne mich nach dir.
Heute begegnet einem das jüdische Erbe in Odessas Gebäuden, in seinen Denkmälern und Museen, aber vor allem in seiner Küche. Hummus, Falafel, Forschmak stehen auf vielen Speisekarten, in manchen Restaurants wird man mit Musikvideos auf Hebräisch beschallt. Pizza Makkabi, anyone?
Vielleicht so: „Ach komm, ich bau jetzt mal ein Haus, das aussieht, als hätte es nur eine Wand.“ (Unbekannter Architekt, achtzehnhundertdunnemals).
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„Ich separiere Sie mal“, sagt Irina, die ältere Dame, die uns durch die Stadt führt. „Separatismus ist ja sehr populär in diesen Tagen, also machen wir das jetzt auch.“ Spricht’s und stellt sich zwischen uns, damit wir trotz der Bauarbeiten kurz vorm Stadtgeburtstag beide hören können, was sie über Odessa erzählt. Von dem Haus mit der weiß-rosa Fassade, das sich eine reiche Familie einst bauen ließ. In welchem Stil, wollte der Architekt wissen, Antwort: „Wir haben Geld genug, machen Sie einfach alle Stile.“
Die Straße, an der das Haus liegt, nennen manche Bewohner von Odessa übrigens die schamlose Straße, erzählt Irina. Das liegt an den Platanenbäumen, die hier stehen und deren Rinde abblättert, wenn darunter neue nachgewachsen ist. „Die ziehen sich einfach so hier um, wo es jeder sehen kann“, sagt Irina und lächelt. „Darum ’schamlose Straße‘.“
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Das mit dem Strand allerdings, das haben sie hier nicht so drauf. Man muss aus der Stadt rausgondeln mit dem Bus nach Arcadia, was nach einem dystopischen Staat klingt. Tatsächlich hat das Allgemeinwohl hier keine allzu große Priorität: Nur ein schrabbeliger, kleiner, betonbegrenzter Teil des Strandes ist kostenlos und für alle zugänglich. Für alle weiteren Abschnitte muss man Eintritt in einen Beach Club zahlen – mit Glück findet man einen, in dem man nicht beschallt wird. Sonne ist Sonne, Meerblick ist Meerblick, auf einer Liege unterm Sonnenschirm ist gut Liegen. Aber mehr als einmal muss man das nicht erleben.
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Was sie hingegen hier können: Blickkontakt, Lächeln, kleines Schwätzchen. Kopfsteinpflaster, Fußgängerzone, Wind, der vom Wasser her weht. Und Stuck, den können sie auch.
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Die korrekte Schreibweise, das versteht man spätestens mit der Abschiedswehmut am letzten Abend, ist übrigens weder Odessa noch Odesa. Richtig schreibt man es: Ohdessa.
Da stehen wir nun also bei Viktor im Garten und bewundern seine Dahlien. Während er erzählt, dass seine Frau gerade verreist ist – den neuen Enkelsohn besuchen! – pflückt Viktor eine Hand voll kleiner, roter Äpfel für uns und packt sie in eine Tüte. Dann noch eine unterschenkelgroße Zucchini. Drei Tomaten. Noch ein paar Äpfel.
Anschließend gucken wir gemeinsam auf Viktors Handy ein Video, in dem der kleine Enkel zum ersten Mal in ein Stück Melone beißt. „Ihr könnt auch noch Möhren haben,“ ruft Viktor uns nach, als wir uns verabschieden.
Zu Viktor hat uns Ekaterina geführt. Morgens um zehn holt sie uns ab – los geht‘s, Stadtrundgang! Sie ist Historikerin, Expertin für Tomsks alte Holzhäuser, für deren Erhalt sie vor ein paar Jahren selber mitgekämpft hat.
Sie führt uns durch Hinterhöfe und in Treppenhäuser, erzählt von den Leuten, die hier wohnen und davon, wie das war, als vor langer Zeit der Wald noch bis an die große Straße reichte und an ihr entlang Soldaten lebten, um Reisende vor Räubern und Bären zu schützen. Zwei Stunden sollte unser Rundgang dauern, am Ende sind es fast vier.
Ekaterina hat sich für uns Zeit genommen, weil Dmitry sie angesprochen hat. Persönlich lernen wir ihn erst an unserem letzten Tag in Tomsk kennen – da ist die Flasche sibirischer Beerenwein, die er zusammen mit einem sibirischen Käse und ein bisschen sibirischem Gebäck an der Hotelrezeption für uns hinterlassen hatte, schon leer. Dmitry führt uns mitten rein in den Festsaal des alten Unigebäudes, quer durch den botanischen Garten, über Trampelpfade, durch Hinterhöfe und Trödelläden.
Mit dem Bus raus aus der Stadt in ein Waldstück, bis wir schließlich auf den Tom herabblicken, den Fluss, der Tomsk seinen Namen gegeben hat. Im Vorbeilaufen treffen wir: die oppositionelle Bürgermeisterkandidatin, diverse Uni-Mitarbeiter, eine Galeristin, drei Mitarbeiterinnen eines Trödelladens, eine armenische Restaurantbesitzerfamilie und einen Taxifahrer, die Dmitry alle, alle kennt.
Am nächsten Morgen noch ein Abschiedskaffee, Dmitry hat Tomsker Souvenirs mitgebracht – und Gurken von der Datscha seiner Eltern. Mit Grüßen, unbekannterweise.
Unser Kontakt zu Dmitry ist entstanden, weil Inna gerade nicht in Tomsk ist. Dabei hatte sie sich schon so viel für uns überlegt: einen Stadtrundgang, ein Abendessen bei Freunden von ihr, zu deren Haus eine echte russische Banja gehört. Dazu hatte sie allerlei Tipps für Vegetarier geschickt, wo man in Tomsk gut essen kann.
Leider kam es dann so aus, dass bei ihr genau dann, als wir nach Tomsk wollten, ebenfalls eine Reise anstand. Also hat sie eine Vertretung organisiert.
Inna hat sich unserer angenommen, weil wir Alice erzählt haben, dass wir nach Tomsk wollen. „Ich kenn da wen“, hat sie gesagt, „soll ich euch mal zusammenbringen?“ Dann hat sie uns per Chat einander vorgestellt. Alice ist der einzige Mensch in dieser Geschichte, den wir schon kannten, ehe wir nach Tomsk kamen.
Alles andere hat sich entwickelt, indem ein Mensch uns angereiste Fremde an den nächsten weitergereicht hat. Inna, Dmitry, Ekaterina, Viktor. Sibirische Gastfreundschaft als Menschenkette.
Konnte ja keiner ahnen, dass die Deutsche Nationalmannschaft schon lange wieder hier weg ist, wenn Jon Eden in Moskau ankommt. Der 32-Jährige kommt aus Heidelberg, lebt in Kanada und hat sich bei seiner Anreise zur WM für die lange Variante entschieden: Am 17. Juni sind Jon und sein Vater Bernd in Peking in einen Zug gestiegen und losgefahren Richtung Westen. Ihr Ziel: Moskau, rechtzeitig zu den Viertelfinalspielen. Ihre Hoffnung: Dem DFB-Team zujubeln zu können.
Fußball, sagt Jon, ist für ihn der Weg, von Kanada aus seine Bindung zu Deutschland zu behalten. „Bis auf den Kontakt zu ein paar Freunden und Familie mache ich das vor allen Dingen über den Fussball“, erzählt er. „Ich schaue etwa fünf Bundesligaspiele jedes Wochenende und gehe zu jedem Heimspiel von Ottawa Fury, die in der USL kicken, das ist die zweite Nordamerikaliga.“
Vater-Sohn-Trips zu Fußballturnieren sind für ihn nichts Neues, die beiden waren auch schon gemeinsam bei der WM im Brasilien. Das 7:1 der deutschen Nationalmannschaft? Die beiden haben es zusammen gesehen, live im Stadion – und nach dem Turnier dann entschieden, auch zur nächsten Weltmeisterschaft gemeinsam zu reisen. Sein Vater Bernd kam dann auf die Idee, mit der Transsibirischen Eisenbahn zu fahren, erzählt Jon.
Russland langsam und gründlich kennenlernen und sich dabei immer näher dem Ort des Finales annähern, so war das geplant. Wobei, WM und Zugfahren, das passt nicht immer zusammen, räumt Jon ein: „Das Deutschland-Mexiko-Spiel habe ich noch am Flughafenhotel in Beijing geschaut. Dort habe ich auch meinen Vater getroffen, er kam aus München und ich aus Ottawa. Bei Deutschland gegen Schweden waren wir gerade im Zug zwischen Mongolei und Russland. Das war extrem absurd, weil ich da noch keine russische SIM-Karte hatte und keine Ahnung, wie das Spiel ausgegangen ist.“
Was tun? Da hilft nur Recherche, auch über Sprachgrenzen hinweg. „Am nächsten Morgen, so gegen 6 Uhr in Ulan Ude, bin ich dann auf den Bahnsteig gegangen und habe zwei chinesische Reisende gefragt, wie das Spiel ausgegangen ist.“ Ergebnis: 2:1 für Deutschland durch ein rettendes Tor von Jérôme Boateng, nachdem Toni Kroos sich einen Platzverweis eingefangen hatte. Dass das nicht ganz korrekt war, erfuhren die beiden Reisenden erst später – aber gut, es ist wie beim Tippspiel: Die richtige Tendenz ist ja auch schon mal was wert. In Listwjanka am Baikalsee hatten die beiden dann die Gelegenheit, das Spiel nachträglich noch mal zu gucken. Außerdem abgehakt: große Hitze in der Banja, große Kälte im Wasser des Baikalsees.
Als Deutschland gegen Südkorea ausschied, saßen Jon und sein Vater wieder im Zug, irgendwo zwischen Irkutsk und Jekaterinburg, dem östlichsten WM-Austragungsort. Die Mannschaft flog heim, die beiden Zugfahrer rollten weiter – und sind nun heute, nach gut zwei Reisewochen, endlich in Moskau angekommen. Schnell noch ein Beweisfoto vor der Basiliuskathedrale, dann geht es weiter: Zum Viertelfinale nach Sotschi, weiter nach St. Petersburg zum ersten Halbfinale. Wie die beiden dann von Petersburg zurück in die Hauptstadt kommen, um dort das zweite Halbfinale zu gucken, erklärt sich von selber: Natürlich mit dem Zug.
Diese Geschichte spielt zwar in Russland, aber sie beginnt in China. Dort habe ich Ende 2012 nach ein paar Monaten in Peking gemerkt, dass auf dem Rückflug nach Deutschland nicht alles in den Koffer passen würde. Kurz darauf stand ich in einer Markthalle einem Verkäufer gegenüber, der die Vorzüge eines kleinen, roten Hartschalenköfferchens demonstrierte, indem er mit beiden Füßen darauf rumhüpfte: Sehen Sie mal, wie robust der ist!
Stimmt. Als Handgepäck ist der kleine Trolleykoffer seitdem mit mir in alle möglichen Länder gereist, mit allen möglichen Fluglinien, auch Aeroflot. Wir waren zusammen in London und in Bischkek, in Dänemark und Dubai, in Irkutsk und in Israel. Die Gurte innendrin sind ein bisschen leierig, aber die Hartschale weiterhin hart. Es hätte ewig so weitergehen können. Dann dachte sich jemand bei Aeroflot etwas Neues aus.
Reise mit einer russischen Fluglinie, und du lernst eine völlig neue Definition des Begriffs „Handgepäck“ kennen: Während ich den roten Koffer und meine Jacke ins Klappfach über den Sitzen schiebe, verstaut der Sitznachbar: einen Koffer, zwei Plastiktüten aus dem Duty-Free-Shop, einen Blumenstrauß, eine Reitgerte, ein Paar Stiefel, einen Reithelm, einen Ledersattel, vier Ballen Heu und ein leise vor sich hin wieherndes Shetlandpony. Wer da zu spät kommt, den bestraft der Platzmangel.
Kein Wunder also, dass Aeroflot da was ändern will und ankündigte: 1. Ab Mitte Februar nur noch ein Stück Handgepäck (plus Handtasche, das bleibt). 2: Das Handgepäck darf nur noch 40 x 55 x 20 Zentimeter groß sein. Zollstock ans rote Köfferchen: 22 cm. Bei Lufthansa dürfte er 23 haben, bei British Airways und vielen anderen Fluglinien 25. Anders gesagt: Fünf Reisejahre lang hat niemand uns getrennt, nun stehe ich in Moskau am Flughafen, und ein Aeroflot-Kontrollmann sagt: Nein, stop, das müssen Sie aufgeben, das ist kein Handgepäck. Ja, auch wenn die Kollegin beim Check-in den Trolley gerade durchgewunken hat – zurück auf Null, noch mal von vorne in die Schalterschlange.
Mit dem Ärger, der bei der zweiten Runde Anstehen im Bauch grollt, bin ich nicht allein. Als erstes haben sich Russlands Musiker gegen die neuen Regeln gewehrt – und eine Sonderregelung für sich erkämpft. In einer Moskauer Facebookgruppe für Journalisten beraten vor allem die Fernseh- und Fotokollegen, welche Airline in Sachen Kamera und Stativ im Handgepäck entgegenkommender sind. Und bei Twitter und Facebook bekommt Aeroflot die volle Breitseite an Fragen und Beschwerden ab – und antwortet dort oft eher ungelenk.
Nach dem Doppel-Check-in ist genug Zeit, ein Beschwerdeformular auf der Aeroflotseite auszufüllen. Kurzfassung: Ich verstehe, dass ihr weniger Handgepäck-Stücke zulasst. ich verstehe nicht, warum eure Größenvorgaben unter denen der Konkurrenz liegen. Sollen eure Passagiere sich jetzt ein neues Köfferchen kaufen, nur für Aeroflot-Flüge? Abgeschickt, rein in den Flieger nach Deutschland und eine Woche lang Wichtigeres getan: Mit der Familie den 80. Geburtstag der Lieblingstante feiern. Freunde besuchen. Von Patenkind 1 hören, wie es nach der Grundschule weitergeht. Mit Patenkind 2 eine seiner ersten Skatrunden spielen. Patenkind 3 die subtile Frage nach eventuell mitgebrachten Geschenken beantworten. Visumskram. Arztkram. Kramkram.
Auch Aeroflot scheint die Zeit gut genutzt zu haben: In der Woche zwischen meinem Hin- und Rückflug hat es die neue Regel wieder abgeschafft, jedenfalls den Teil mit den Koffermaßen. Oder, wie es in der Antwortmail auf meine Beschwerde heißt: Zwei lange Absätze „Warum die neue Regeln gut und richtig sind“, gefolgt von einem kleinen Absatz „…aufgrund der hohen Zahl von Nachfragen unserer Passagiere nach einer Änderung der Maße für Handgepäck (…) gelten nun 55 cm Länge, 40 cm Breite und 25 cm Höhe.“
Nach zwei Wochen (und was wird eigentlich aus all den Gebühren, die Passagiere in dieser Zeit unverhofft für ein zweites Gepäckstück zahlen mussten?) nun das große Zurückrudern. Wir werden also weiter zusammen reisen können, auch bei Aeroflot – der kleine, rote, chinesische Koffer und ich. Nur der Typ mit dem Shetlandpony – der hat weiterhin ein Problem.
2018, das heißt auch: noch ein Jahr in Russland. Als wir Anfang 2014 hierher gezogen sind, wussten wir, dass fünf Jahre das Maximum sind. Länger schickt die ARD ihre Korrespondenten normalerweise nicht ins Ausland, jedenfalls nicht am Stück.
Januar 2019 ist also Schluss mit Moskau für Markus und für mich. Und so schwer ich mich am Anfang auch mit vielem hier getan habe, und so viel wir seitdem zusammen erlebt, erreist und entdeckt haben: Wenn ich über dieses letzte Moskaujahr nachdenke, bekomme ich schon jetzt so ein leichtes Ziehen im Bauch. Abschiedsschmerz auf Vorschuss, bei den albernsten Anlässen. Neulich habe ich tatsächlich gedacht: „Oh Mann, das ist bestimmt schon die letzte Packung Wattestäbchen, die du hier kaufst, so selten wie du die brauchst.“
Was soll dann erst aus den Dingen werden, an denen das Herz hängt? Wie viele Sommermorgende auf der Datscha noch? Wie oft noch das Gefühl, vor die Tür zu treten bei einer solchen Kälte, dass sofort die Feuchtigkeit in der Nase gefriert? Wie oft noch mit Freunden um den Tisch beim Lieblingsgeorgier sitzen? Wie oft noch in eine neue Stadt kommen und sich zwischen Marx-Straße und Lenin-Straße orientieren?
Außerdem gibt es noch so viele Sachen, die ich hier noch nie gemacht habe. Schlichte touristische – das mit der Führung im Großen Kremlpalast hat nie geklappt, Tolstois Haus kenne ich nur von außen. Ums Eisbaden hab ich mich bisher gedrückt, dabei soll das doch ein ganzes Jahr lang Segen und Gesundheit bringen. Ich hab immer noch niemanden gefunden, der an der Lomonosow-Uni studiert und mich da mal mit rauf nimmt, vom Hauptgebäude runtergucken. Ganz Moskau spielt Quests, nur ich war noch nie bei einem. Sollte ich nicht vielleicht doch mal eine Prüfung beim Puschkin-Institut ablegen, um mal zu wissen, wo ich sprachlich so stehe? Gesangsunterricht bei einer russischen Lehrerin wollte ich auch immer mal nehmen. Außerdem: Wie kann man zig Konzerte im Konservatorium und im Dom Musiki gehört haben, aber noch kein einziges im Tschaikowsky-Saal?
Und das sind nur die Moskauer Ideen. In Kaljasin guckt ein Glockenturm aus einem Stausee raus – die AirBnB-Wohnung am Ufer ist schon seit Monaten gebookmarkt. Wladiwostok soll sich anfühlen wie eine Mischung aus San Francisco und Japan. In Kamtschatka gibt es Vulkane und in Ulan-Ude die weltgrößte Lenin-Büste.
Kurz dahinter beginnt die Mongolei.
Von Moskau nach Kasachstan ist auch nicht so weit.
Vielleicht schafft Usbekistan 2018 ja endlich mal die Visumspflicht ab.
So viele Ideen, da kam die Nachricht einer Freundin genau recht. Sie organisiert eine Fotochallenge für 2018: jede Woche etwas erleben, was man noch nie erlebt hat, und das dann dokumentieren. Hashtag: #52newthings. Immer sonntags wird dann ein Bild fällig, das zeigt, was diese Woche neu war. Ein Impuls, aus diesem einen, letzten Russlandjahr noch mal alles herauszuholen.
Was da alles drinsteckt, in diesem gar nicht so großen Land! Mal sind es Bergwiesen, satt und grün und lieblich, mit rauschendem Wasser, wilden Pferden und hier und da einer Jurte. Dann ein Canyon, knallrot und heiß, auf dessen staubtrockenen Felsen sich Eidechsen sonnen. Der Yssykköl, zweitgrößter Gebirgssee der Welt, ein paar Angler oder Badende am Rand und sonst nur Wasser bis zum Horizont. Steppe hier. Halbwüste dort. Und immer das Bedüfrnis: noch ein bisschen bleiben, noch etwas länger gucken, noch ein paar Fotos machen.
Mitgebrachte Infusionsbestecke: 3
Wenn auf der Kofferpackliste neben festen Schuhen, Fleecejacke und Sonnenschutz auch Einwegspritzen und Infusionsbestecke stehen, dann hat das Auswärtige Amt mitgeschrieben. Erst fühlte sich das ein bisschen übervorsichtig an – ich werd mir ja wohl nicht zwei Jahre in Folge im Urlaub was brechen. Dann saßen wir abends mit ein paar Freunden zusammen, die alle selbst gerne reisen und teilweise auch für Unternehmen arbeiten, wo Aufenthalte in Ländern mit nicht so guter ärztlicher Versorgung zum Job gehören.
„Spritzen und Infusionsbestecke, das ist ja gar nichts. Bei uns ist neulich ein Kollege nach Indien gereist, dem hat der Betriebsarzt ein komplettes sterilisiertes OP-Besteck mitgegeben.“ – „Ist bei uns auch so, und du kriegst das alles nur, wenn du auch gleichzeitig die Kondome mitnimmst, die er dir mitgibt.“ – „Stimmt, das hatte ich auch schon mal, drei Stück waren das damals.“ – „Nee, heute nur noch eines, wir müssen ja sparen.“
Gelesene Buchseiten: unter 100
Sonst war es immer so einfach: Einer fährt, der andere liest und guckt zwischendurch in die Landschaft. Wenn allerdings aus der Straße eine Schotterpiste wird, aus der Schotterpiste ein Trampelpfad und aus dem Trampelpfad irgendwann fast blanker Felsboden, ist er schwer, den Blick auf der Zeile zu halten. Einerseits.
Andererseits soll das nicht heißen, dass der Urlaub frei war von literarischen Stilmitteln, ganz konkret: dem inneren Monolog: Oh mein Gott, da sollen wir rauf? In einem Auto? Ist das nicht ziemlich steil, und schmal, und dann zur Seite plötzlich… okay, der da drüben macht das in einem alten Golf, und ich fahr hier einen Jeep. Aber der ist auch Kirgise! Der hat Übung, Gene… ach guck, hat doch geklappt. Und das da vorne über den Fluss, das soll also eine Brücke… aber… haben Brücken nicht normalerweise Geländer? Und eine ebene Oberfläche statt grob nebeneinander montierte Baumstämme? Das wird nichts. Das kann ich nicht. Wir werden alle sterben, oder zumindest umkippen, oder…
Und laut dann: „Oh Mann, der Blick hier oben. Toll, oder?“ – „Ja, toll.“
Gescheiterte Polizei-Abzocken: 1
Die Polizei in Kirgistan ist legendär korrupt. Autovermieter, Reiseblogger, Bekannte, alle waren sich einig in ihrer Warnung. Wir hatten uns also vorbereitet: bloß ein paar kleine Som-Scheine ins Portemonnaie und, Faustregel: Wir können heute leider mal so gar kein Russisch. Gesehen haben wir täglich zwei, drei Geschwindigkeitskontrollen, rausgewunken wurden wir erst am vorletzten Tag, in einer 40-km/h-Zone.
Ich wusste, mehr als 35 war ich nicht gefahren – schon wegen der Schlaglöcher. Der Polizeimann sah das anders, tippte Zahlen auf seinem Handy-Taschenrechner und erklärte auf Russisch: „Hier ist 40. Sie sind 52 gefahren. 3000 Som Strafe.“ Ich: „Why?“ Er: „Hier ist 40. Sie sind 52 gefahren. 3000 Som Strafe.“ Ich: „I don’t understand.“ Nächste Eskalationsstufe: Er malt die 40 und die 52 auf einen Zettel (vielleicht liegt’s am Medium, dass die komische Ausländerin nichts versteht?) und fordert nun auch nur noch 2000 Som.
Ein paar Runden haben wir das Spiel noch gespielt, er mit seinen Zahlen, ich mit „Why“, „I don’t understand“, „I don’t speak Russian“. Dann war es ihm irgendwann zu viel kostbare Zeit, in der man gefügigere, sprachkompetentere Autofahrer hätte abzocken können. Wir fuhren weiter. Mit 35, höchstens.
Staatstragende Motivationskampagnen: 1
Im Vergleich zu vielen anderen -Stanen ist Kirgistan etwas demokratischer, es gab hier seit dem Ende der Sowjetunion schon eine ganze Reihe Präsidenten, einmal sogar eine Präsidentin. Der aktuelle Amtsinhaber, Almasbek Atambajew, wird denn auch nicht so sehr wie seine Kollegen aus den Nachbarländern als omnipräsenter, sonnengleicher Führer inszeniert. Nur einmal ist uns eines seiner Porträts begegnet, am Zaun zu einem Museumsgelände.
Durchaus postsowjetisch fühlt sich dagegen die Plakatkampagne an, deren zahlreiche Motive an den größeren Straßen stehen: Mal sind es uniformierte Soldaten, mal ein Mähdrescher, mal Ärzte im OP, mal Frauen in der Landwirtschaft. Begleitet werden sie vom immer gleichen knappen Slogan, auf Kirgisisch und Russisch: „Wir arbeiten!“ Ob das nun eher „Komm, pack an!“ vermitteln soll oder „Es gibt auch hier Arbeitsplätze, nicht alle müssen nach Russland abwandern“ – schwer zu sagen.
Tage, die mit Kascha begannen: 7
Tage, die mit Lagman – dicken Nudeln mit Gemüse, serviert im Sud und mit vielen Kräutern – endeten: 5. Auch sonst war beim Essen einiges neu fur uns: „Koreanischer Möhrensalat“ zum Beispiel, der ungefähr so koreanisch ist wie Spaghetti-Eis italienisch. Kurut, kleine harte Knubbel, für die Joghurt getrocknet, gesalzen und gerollt wird.
Geröstete Bohnen vom Basar, die man wie Pistazien aus ihrer Schale fischt und dann knabbert. Und Tschalap, ein Getränk wie Ayran, nur salziger und mit viel Kohlensäure. In Bischkek sitzt an jeder zweiten Straßenecke eine Frau mit einem Tschalap-Fass. Vor allem bei 36 Grad zu Beginn unserer Reise genau das richtige Getränk.
Deutsche Spuren: viele
Der Ort „Rotfront“, gegründet von deutschen Mennoniten im Jahr 1927 als „Bergtal“. Die vielen Marx- und Engels- sowie gelegentlichen Thälmannstraßen. Vor allem aber: Autos. Was in Deutschland fürchten musste, nicht mehr durch den TÜV zu kommen oder einfach durch neuere Modelle ersetzt wurde, fährt nun über die Straßen von Kirgistan.
Was haben wir alte Audis gesehen, die sich tapfer über Schotterpisten kämpften. Und die Klein- und Großlaster erst, oft noch mit den ursprünglichen Werbeaufschriften: „www.Reifers-Reisen.de“ – „Otte: Qualitätsgemüse frisch aus deutschen Landen – schmackhaft und gesund“. Nur der Mercedes Sprinter vom Hüpfburgverleih, der kam aus Holland.
Ungelöste Globalisierungsrätsel: 2
Alte Frachtcontainer sind hier als Baumaterial, sogar als Wohngebäude populär. Wir sind an großen Geländen vorbeigefahren, die komplett mit Containerwänden umzäunt waren, Kirchen mit einem Container als Nebengebäude, sogar ein Haus, das einfach aus sechs gestapelten Containern bestand. Ob das billiger ist als Mauern? Hier, wo doch an vielen Orten Ziegelsteine hergestellt werden?
Vor allem aber, Rätsel Nummer zwei: Warum sieht man hier ständig Plastiktüten von Morrisons, der britischen Supermarktkette? Obst auf dem Basar – in der Morrisonstüte. Mineralwasser im Laden – in der Morrisonstüte. Selbst im Hotelbadezimmer hängt eine Morrisonstüte im Mülleimer, eine obdachlose Frau in Bischkek trägt ihre Habseligkeiten in drei Morrisonstüten rum. Morrisons hat keine Filialen in Kirgistan, es reicht außerhalb der britischen Inseln gerade mal für Gibraltar. Also, werden die Tüten nebenan in China hergestellt und beim Transport über Land ist regelmäßig ordentlich Schwund? Oder kann es daran liegen, dass es alles Tüten mit dem alten Logo sind, die in Großbritannien keiner mehr haben wollte? Und dann wurden die irgendwie nach Kirgistan verramscht?
Fotografierte Bushaltestellen: 8
Ob alte deutsche Audis oder neue japanische Modelle: ein Auto ist etwas, das sich bei weitem nicht jeder in Kirgistan leisten kann. Tatsächlich sieht man ab und an noch Eselskarren, wirklich entscheidend für die Fortbewegung sind aber Marschrutki, die weißen Sammeltaxis. Egal, ob du vom Stadtzentrum von Bischkek schnell mal zum Basar willst oder von einer Stadt hunderte Kilometer in die nächste: Die Marschrutka bringt dich hin. Und wo Busse fahren, braucht man Bushaltestellen.
Die Exemplare an unserer Route waren, immer wieder, Kompromisse zwischen Beton und Spieltrieb. Seltsam, wie viele unterschiedliche Formen man finden kann für ein Dach mit Stützen und eventuell noch einer Rückwand. Fliesen, Mosaike, Putz, alles nicht mehr ganz neu. Aber in all seinem bröckeligen, verspielten Charme doch immer wieder ein Grund, langsam zu fahren, anzuhalten und etwas zu fotografieren, das in keinem Reiseführer als Sehenswürdigkeit vorkommt.
Wir müssen mal über Korruption reden. Nicht, weil Russland mit diesem Problem auf der Welt alleine da stünde – wer aus dem Rheinland kommt, kennt die Redensart „Mer kennt sich, mer hilft sich“, mit der der Kölsche Klüngel umschrieben wird. Eine Hand wäscht die andere, in Mülheim wie in Moskau. Aber das Ausmaß ist hier dann doch ein anderes.
Im Korruptionsindex von Transparency International steht Russland auf Platz 131 von 176. Das klingt abstrakt, bedeutet aber konkret: Jeder, den du hier ansprichst, kann eine Geschichte erzählen zum Thema Filz, Bestechung, Schmiergeld. Eine Geschichte von „Lässt sich das vielleicht auch anders lösen?“ und von „Na, dann sagen Sie doch mal, was Sie sich so vorstellen.“ Eine Geschichte von „Das geht auch einfacher, aber das kostet dann.“
Gut, erzählen kann jeder. Darum habe ich in der folgenden Liste nur die Fälle verbloggt, die meine unmittelbaren Freunde, Bekannte, Kollegen erlebt haben. Kein Hörensagen, kein „der Kollege eines Schwagers“. Nur ein paar Anekdoten aus dem unmittelbaren Umfeld, gesammelt in allerlei Gesprächen. Anonymisiert, zwangsläufig. Aber vielleicht ja trotzdem ganz interessant, was die verschiedenen Preisklassen und die Abwicklung angeht. Oder wüsstet ihr, wie das funktioniert, wenn man einen Streifenpolizisten bestechen will?
Problem: Du möchtest beim Moskauer Marathon starten. Dazu braucht man ein Gesundheitszeugnis, aber es ist schon Samstag und der Lauf ist am Sonntag.
Du suchst bei Spravka.ru eine Adresse in deiner Nähe raus, gehst in einen Hinterhof, eine Treppe herab in einen Keller. Dort sitzt eine Frau im weißen Kittel. Sie fragt dich, ob du gesund bist. Wenn du das bestätigst, stellt sie dir ein Gesundheitszeugnis aus. Untersuchung: keine. Preis: 400 Rubel (5,70 Euro).
Problem: Ein Jahr später, wieder Marathon. Du hast aber keinen Bock, für das Gesundheitszeugnis so viel Aufwand zu betreiben wie letztes Mal. Geht das nicht auch ohne Aus-dem-Haus-Gehen?
Klar. Für 700 Rubel (10 Euro) kommt jemand vorbei und bringt dir ein ausgefülltes, abgestempeltes Gesundheitszeugnis. (Für ein paar hundert Rubel mehr gibt es übrigens auch die Blanko-Variante, auf der du den Namen selber eintragen kannst. Falls mal ein Freund zu Besuch kommt und mitlaufen möchte.)
Problem: Auf deinem Weg zur Arbeit ist eine Baustelle, die Fahrbahn ist deshalb dort im Moment schmaler als sonst. Nun haben dich zwei Polizisten rausgewunken, die gesehen haben wollen, dass du mit einem Rad über die Fahrbahnmarkierung drüber warst. Sie wollen deinen Führerschein behalten.
Du hast gerade nicht so viel Bargeld dabei? Kein Problem, die beiden vertrauen dir. „Kennst du dich hier in der Gegend aus?“ – „Ja, ich fahr hier jeden Tag lang.“ – „Na, dann weißt du ja auch, wo ein Geldautomat ist.“ Den Führerschein halten sie so lange fest, bis du wieder da bist, mit 5000 Rubel (72 Euro) für jeden. Jetzt schön nebeneinander im Auto sitzen und das Geld auf Schoßhöhe rüberreichen, damit die Transaktion von außen nicht zu sehen ist. Fertig, gute Fahrt noch.
Problem: Du möchtest als Freiberuflerin von zuhause aus arbeiten – legal, also musst du ein Gewerbe anmelden. Das geht aber nicht von einer Privatadresse.
Du suchst dir jemand, der eine Bürofläche hat. Für 3000 Rubel (43 Euro) pro Monat bestätigt er dir schriftlich, dass du in seinem Büro einen Schreibtisch hast und von da aus deinem Gewerbe nachgehst.
Problem: Es ist vier Uhr morgens, ihr wart feiern und seid alle ziemlich angezählt. Vermutlich solltest du dich nicht mehr ans Lenkrad setzen, stattdessen kommst du auf die Idee: Einfach ganz langsam fahren, dann kann ja nichts passieren. Klar, dass das der Polizei auffällt. Sie winkt dich raus, lässt dich pusten, und du bist über dem Erlaubten. Dabei brauchst du dein Auto doch jeden Tag beruflich!
Für eines bist du dann doch noch klar genug im Kopf: Um zu merken, dass die Polizisten nichts dagegen hätten, das hier auf dem kleinen Dienstweg zu regeln. Der eine weist dich auch sofort an, wieder einzusteigen und zum nächsten Geldautomaten zu fahren. Alkoholtest oder nicht, du sitzt wieder am Lenkrad, aber dafür hast du ja jetzt eine Polizei-Eskorte, die hinter dir herfährt. Über 100.000 Rubel (1435 Euro) sind es am Ende, die du abhebst und den beiden übergibst. Viel Geld – aber ein Jahr ohne Führerschein, das hätte dich den Job gekostet.
Problem: Du möchtest heiraten, hast aber unterschätzt, wie viel Vorlauf es braucht, einen Standesamttermin in Moskau zu bekommen.
Wer schwanger ist, bekommt auch kurzfristig noch einen Termin. Also: Umhören, welcher Arzt einem auch unbefruchtet bescheinigt, dass man schwanger ist, ihm 900 Rubel (13 Euro) für eine Bescheinigung geben und sie beim Standesamt vorlegen. Leider fehlt dann ein entscheidender Stempel – wie ärgerlich, denn für die gefälschte Bescheinigung gibt’s kein Geld zurück. Aber bei einem anderen Arzt und für 1200 Rubel (17 Euro) bekommst du schließlich das richtige Attest für die falsche Schwangerschaft. Jetzt wird geheiratet!
Problem: Du bist eigentlich noch nicht alt genug, um Bier trinken zu dürfen. Nun hat eine Polizeistreife einen Freund und dich dabei erwischt, wie ihr auf einem Spielplatz sitzt und genau das tut. Alkoholkonsum im öffentlichen Raum, ihr seid unter 18 – die beiden drohen mit 1000 Rubel Bußgeld, vor allem aber wollen sie eure Eltern informieren.
„Lässt sich das nicht vielleicht auch anders lösen?“ Die beiden Streifenpolizisten zeigen sich durchaus zugänglich für die Idee, die 1000Rubel (14 Euro) selber einzustecken, statt sie als Bußgeld zu verbuchen. Dein Kumpel hat auch 1000 Rubel dabei, aber noch keine Erfahrung im Bestechen und versucht deshalb, dem einen Mann das Geld direkt in die Hand zu drücken. Großes Hallo, was machen Sie denn da? Der Polizist erklärt: Fallen lassen auf den Boden muss man den Schein. Kurz darauf bückt sich einer der beiden Beamten – ach schau, ein Fundstück. Sowas. Immerhin: Eure Eltern erfahren nichts.
Problem: Deine Zeit in Moskau geht vorbei, du ziehst zurück nach Deutschland und dein Kater soll mit. Doof nur: Haustiere brauchen zur Ausreise allerlei Papiere. Und die bekommt nur, wer in diese eine Klinik weit draußen im Süden von Moskau fährt, dort eine Wartenummer zieht, wartet, das Tier vorzeigt, wieder wartet…. Und du hast mit der Umzugsplanung gerade echt genug um die Ohren.
Gut, dass du dich schon vor einiger Zeit nach einem Tierarzt erkundigt hast, der solche Probleme löst. Damals sollte der Kater kastriert werden – das hat der Arzt dann bei euch auf dem Küchentisch gemacht, nachdem er den mit Mülltüten abgeklebt hatte. Kostenpunkt: 5000 Rubel (72 Euro). Die Bescheinigung bringt der Arzt jetzt sogar für deutlich weniger vorbei: 3000 Rubel (43 Euro), und schon hast du alle nötigen Papiere in der Hand, damit aus dem Haustier ein Reisetier werden kann.
Problem: Noch eine Auslandsreise, diesmal geht es um Mensch, nicht Tier. Der Urlaub ist gebucht, in ein paar Tagen geht es los – nur der Reisepass ist nicht mehr zu finden. Als russischer Staatsangehöriger weißt du: ein neuer Pass, das dauert einen Monat, außerdem hast du gar nicht die nötigen Unterlagen zur Hand. Und jetzt? Kein Urlaub?
Ein bisschen Recherche im Internet und es findet sich eine Frau, die behauptet, solche Probleme lösen zu können. Ein Anruf, eine Absprache, zur vereinbarten Zeit gehst du zur zuständigen Behörde. Dort nimmt dich deine Kontaktperson in Empfang, unter ihrer Betreuung darfst du an den diversen Warteschlangen stets vorbei zu den Schaltern. Formular hier, Stempel dort, fertig. Dann überweist du deiner Möglichmacherin 30.000 Rubel (430 Euro), quasi als inoffizielle Expressgebühr. Fünf Tage später ist der fertige Pass da.
Deutsche kommen an den Baikalsee wegen der Natur. Chinesen kommen wegen dieses einen Lieds aus dieser einen Fernsehshow. Ein Lied über Liebe, über Sehnsucht und über Gefühle, die so stark sind, dass sie Schnee schmelzen lassen. Ein Lied, das schon mehr als eine Million mal bei Youtube angesehen wurde, mit Zeilen wie „Du bist kristallklar und geheimnisvoll, wie das Ufer des Baikalsee.“ Die Melodie klebt nicht nur wie Zuckerguss im Gehörgang, sie sorgt auch dafür, dass beim Naturgucken am Baikal die nächste chinesische Reisegruppe nie weit entfernt ist. Ein Running Gag zwischen all der Schönheit und Stille.
Um 6 Uhr in Irkutsk aufstehen, zum Bus laufen, mit dem Bus zur Fähre, mit der Fähre zum Bahnhof und von da an sieben Stunden mit dem Zug am Ufer entlangzuckeln, bei 20 km/h: eine ganz wunderbare Art, an- und runterzukommen zum Start in den Urlaub. Auf Wasser zu gucken entspannt ja ohnehin, und wenn sich dann auch noch die Perspektive permanent, aber behutsam wandelt, erst recht: Felsen, Wald, Wasser, Tunnel. Blumenwiese, Wald, Wasser, Tunnel.
Die Gelassenheit macht sich so breit, dass es schon beim dritten Halt unseres Zuges fast vollkommen egal ist, dass die chinesische Mitreisegruppe mit großer Hingabe „Komm, ich bin dein Vordergrund“ spielt. Einmal mache ich den Test und gehe einfach mal nicht zur Seite, weiche dem Fotografierenden nicht aus, sage aber auch nichts. Er stellt sich so nah wie andere nicht mal im Fahrstuhl. Auf meinem Foto sehe ich später: Chinese, Wald, Wasser, Tunnel.
Noch langsamer als auf der Zuckelzugtour ist das Leben auf Olchon, der größten Insel im Baikalsee. Straßen gibt es hier keine, jedenfalls nicht in der Definition, dass sich irgendwas mit Asphaltoberfläche durch die Landschaft zöge. Stattdessen hat Olchon Pisten aus Schotter oder einfach aus von Reifen festgedrückter Erde. Es ist eine Welt, an der das Wichtigste an einem Auto seine Stoßdämpfer sind und das wichtigste an den Touristenfüßen feste Schuhe.
Ja, auch hier sind die Gruppenchinesen da, und nein, das allmorgendliche Konzert aus Schleimhochziehen und Aufdenbodenrotzen vor der Tür der Reihenholzhütte müsste nicht sein. Aber den restlichen Tag hört man bloß mal eine Möwe, eine Kuh, den Regen auf dem Dach oder eventuell die Brandung. Beim Weg durchs Gelände stieben alle paar Schritte Grashüpfer weg. Der Kiefernwald steht licht und schweiget. Man kann im Baikalsee schwimmen (und Gott, ist das kalt, bis der Kreislauf anspringt und aus dem kalten Wasser rote Wangen macht), man kann aber auch einfach nur vor sich hin schauen. Und was hast du heute so gemacht? Ich habe geguckt.
An einem Tag ist in der Nähe Jahreshauptversammlung der Schamanen, die in einer Prozession zu Gesängen und Trommelschlägen mehrere geschmückte Birkenbäume um einen Platz tragen und sie anschließend zum Lagerfeuer schichten. Obendrauf kommen große Teile eines Schafskadavers, wir Zuschauer ziehen mit den Gläubigen im Kreis ums Feuer und lassen uns von dem Rauch umwabern. Später bespritzen die Schamanen ihre Anhänger mit heißem Wasser und wir sollen uns abwenden. Nicht, um die Privatsphäre der hemdlosen Täuflinge zu schützen, erklärt eine Frau mit Megafon. Sondern weil, wenn das Wasser die Menschen trifft, alles Unreine aus ihnen flieht – und wir Gefahr laufen, dass es sich stattdessen auf uns Besuchern niederlässt.
Abends dann eine Bootstour, die mit Verwirrung beginnt: Hier soll das losgehen? Aber hier ist doch nicht mal ein Anleger. Doch dem Boot, auch wenn es groß ist, ist das egal – es schiebt sich einfach halb auf den Strand und die Passagiere klettern an Bord. Zwei Deutsche und (war ja klar) 30 Chinesen, im Abendrot vereint unterwegs zu einer hohen Felseninsel, auf der Möwen darauf warten, mit Brot zu malerischen Sturzflügen veranlasst zu werden.
Der chinesische Reiseleiter hat ordentlich Toast mitgebracht und verteilt ihn, auch an die beiden Nichtchinesen. Wir werfen mit Brot um uns, fotografieren Möwendetails und Möwentotalen. Das Wasser ist rot. Das Wasser ist violett. Das Wasser ist blaugrau. Das Wasser ist kristallklar und geheimnisvoll.
Irkutsk also. Die Stadt, bei der der es sich auszahlt, neulich im Russischunterricht die Steigerung von Adjektiven durchgenommen zu haben, um nun sagen zu können: Это самый скучный город в России – es ist die langweiligste Stadt Russlands. Eine Handvoll Sehenswürdigkeiten, die in rascher Folge abfallen von Kirchen und Dekabristenhäusern zu einem Denkmal für die japanisch-russische Freundschaft, bei dem aus irgendeinem Grund ein steinernes Ei auf dem Boden liegt. Cafés, davon zwei oder drei gemütlich. Gelegentlicher Waldbrandgeruch und bei Regen knöchelhoch geflutete Straßen.
Gut, wir wussten das vorher. Der Plan war ohnehin, Irkutsk als bloßen Ausgangspunkt zu benutzen für einen Urlaub am Baikalsee – und die paar Tage in der Stadt zu verlesen, zu verschlafen und in Cafés zu vergammeln. Geklappt hat das allerdings dann doch nur fast. Weil es uns partout nicht gelang, in Irkutsk gar nichts zu erleben.
Alkohol und Kokain
Regen, Regen, Regen. Logistische Überlegungen drehen sich darum, welche Schuhe wohl wie schnell trocknen. Feuchte Socken hängen über der Duschstange. Und doch ist das Pflichtgefühl, irgendwie mal da raus zu gehen, so stark, dass wir plötzlich im Museum für Stadtgeschichte stehen – und dem Phänomen gegenüber, das greift, wann immer man Moskau verlässt: Boah, sind die nett hier! Blickkontakt! Lächeln!
In langsamen russischen Hauptsätzen erklärt eine Mitarbeiterin Mammutzähne, burjatische Alltagsgegenstände und Stadtmodelle in Vitrinen. Ihre Kollegin, ähnlich bemüht, möchte wissen, ob die beiden Besucher nicht vielleicht Französisch sprechen? Tun sie? Ach, schön – also, hier bitte den escalier herab, und dann geht es unten weiter mit salle numéro cinq. Ich versuche mich zu erinnern, wann in einem Moskauer Museum zuletzt jemand etwas anderes mit mir gesprochen hat als Russisch oder, mit zunehmender Ungeduld, extralautes Russisch.
Zwei Exponate bleiben in Erinnerung: ein Satz medizinische Broschüren über die Behandlung von Alkoholismus, Husten und Trägheit. Und ein Schmuckstück zum Öffnen, dessen Beschreibung ich zweimal lese, im Wörterbuch nicht finde, google und mir später noch von unserer Russischlehrerin bestätigen lasse: Ja, sowas trugen im 19. Jahrhundert feine Damen, damit sie im Theater die Droge ihrer Wahl konsumieren konnten. Daher auch der Name: „Kokainnitza“.
Pokémon bei Gericht
Wenn die Stadt und ihre Sehenswürdigkeiten nicht allzu aufregend sind, legt man halt eine Schicht aus Fantasiemonstern und deren Infrastruktur darüber. Direkt vor unserem Hotelfenster steht ein Gerichtsgebäude, aber in der Pokémonwelt ist das eine Arena, wo Spieler ihre Pokémon aufeinander loslassen können, auf dass der Stärkere gewinne.
Nach und nach fällt mir auf, wie hart umkämpft dieser Ort ist – vor dem Frühstück gehört er Team Rot, beim Zähneputzen danach schon wieder Team Blau, dann schaltet sich auch Team Gelb ein. Das wäre alles nur leidlich spannend, müsste man nicht, um in dieser Arena zu kämpfen, sich dort auch aufhalten – schon im Hotelzimmer gegenüber bin ich zu weit weg, als dass meine Pokémon sich mitkloppen könnten.
Der Knackpunkt ist: Vor dem Gebäude steht so gut wie nie jemand. Ganz gelegentlich tippt ein Mann in einer Lederjacke auf seinem Handyscreen rum, aber die meisten Kämpfe toben, ohne dass rund ums Gericht auch nur ein Mensch zu sehen wäre. Das heißt: Es müssen die Leute im Gebäude sein, die für die ganze Pokémon-Action sorgen. Richter, Anwälte, Kläger, Beklagte, Zeugen. Sogar am Wochenende tobt der Kampf um die Arena. Putzfrauen? Wachmänner? In dieser Parallelwelt jedenfalls ist in Irkutsk ordentlich was los.
Isba-Idylle
Eine Art Blockhaus mit Zierleisten und Fensterläden nennt man in Russland auch Isba. Viel Handwerkergeschick ist nötig, damit Holz so filigran aussieht wie bei ihren Verzierungen. In Irkutsk gibt es noch so viele dieser traditionellen Unterkünfte, dass man sie nicht mal suchen muss. Sie stehen gleichberechtigt neben modernen Bürogebäuden und Mehrfamilienhäusern.
Idyllisch sind diese alten Holzkonstruktionen übrigens nur für Touristen, die ein paar Fotos machen und dann weitergehen. Für die Menschen, die in ihnen wohnen, sind Isbas nicht besonders attraktiv: Viele von ihnen sind schlecht in Schuss und haben kein fließendes Wasser, bloß eine Pumpe am Straßenrand.
Ein Klavier, ein Klavier!
Im Haus der Familie Wolkonski wird die Geschichte der Dekabristen erzählt – einer Gruppe von Offizieren, die sich gegen den Zaren auflehnten, für ein liberaleres Russland eintraten und dafür mit dem Leben bezahlten oder, wie Sergei Wolkonski, nach Sibirien verbannt wurden. Viele Dekabristen waren gebildet, weit gereist, an Kunst interessiert – für Irkutsk und die Umgebung bedeutete ihre Ankunft einen Schub für Bildung und Kultur.
Heute steht an einer Wand im Wolkonski-Haus ein Pyramidenklavier, die Saiten laufen also senk- statt waagerecht, und eine nette Museumsmitarbeiterin schlägt sogar ein paar Töne an und erzählt, dass es nur noch fünf solche Instrumente auf der ganzen Welt gibt.
Hinter einer geschlossenen Tür im Erdgeschoss singen ein Tenor und ein Sopran Duette. Die Rampe zum Eingang ist eine an die Treppenstufen gelehnte Schranktür – zu schmal für einen Rollstuhl, aber hey, die Geste zählt. Im Wintergarten ist hier schon mal eine Ananas gewachsen, und der echte Garten liegt in der Sonne und will nichts von einem, als dass man sich mit einem Buch reinsetzt und die Ruhe genießt. Davon hat Irkutsk ohnehin reichlich.