60 Minuten Russischunterricht

kscheib Russischunterricht

Dass der Besuch noch schläft. Ob die Milch für den Tee noch gut ist. Dass sie gestern einen extrem vollen Tag hatte. Dass sie mit einem Schüler einen langen Text über Nawalny gelesen hat. Ob die Strategie von Nawalnys Wahlkampf ist, maximal zu provozieren, so lange er das noch kann – bis seine Kandidatur untersagt oder anderweitig verhindert wird. Wann die „Nach-Nawalny-Ära“ beginnt, und dass das ja zumindest heißt, dass es davor eine „Nawalny-Ära“ gegeben hat. Wo Markus gerade ist. Der Stadionbau in St. Petersburg. Die FIFA. Korruption.

Dass das gestern wieder vier Stunden gedauert hat, als Putin im Fernsehen Fragen von Bürgern beantwortet hat. Um welche Antworten er sich gedrückt hat. Was er zum Druck auf Kulturschaffende gesagt hat. Zu welchem Zinssatz Kleinunternehmer einen Kredit aufnehmen können und was da noch an Zusatzgebühren draufkommt. Der Unterschied zwischen einer physischen Person und einer juristischen Person.

Dass es in der EU bald kein Roaming mehr gibt. Dass eine Journalistin im Fernsehen die russischen Telefonanbieter gefragt hat, warum Russen im Ausland weiterhin Roaminggebühren zahlen müssen. Dass die Antwort war: Schaut mal, die EU ist so klein – und ihr müsst im ganzen, großen Russland keine Roaminggebühren zahlen, freut euch doch.

Das Konzert gestern Abend im Tschaikowskisaal. Zu welchem Abonnement es gehört, warum der Dirigent ihr liebster ist (musikalisch brilliant, aber auch ein guter Erklärer, der in der ersten Hälfte Mahlers Siebte dem Publikum erläutert und erst in der zweiten Hälfte dann auch aufgeführt hat). Dass ihm wichtig ist, nicht nur die Klassikkenner zu begeistern, sondern auch die, die zum ersten Mal ins Konzert gehen. Dass der Saal ausverkauft war. Was Mahler als Dirigent für Werke geleitet hat. Die Meistersinger von Nürnberg.

Unser Chorkonzert gestern Abend im Konservatorium. Dass der Saal eher so halb voll war. Dass das nichts macht, weil ja im Tschaikowskisaal besagter Superdirigent auf der Bühne stand und bestimmt das Publikum abgezogen hat. Dass man als Alt wenig sieht, wenn auf der Bühne zwei Konzertflügel aufgebaut sind und dahinter steht der Dirigent. Dass wir Chorsänger in der ersten Hälfte hinten im Saal sitzen durften zum Zuhören. Dass beide Pianistinnen großartig waren, aber der Umblätterer der einen sich so vertan hat, dass sie verärgert war und selber geblättert hat. Dass in der Pause die beiden Pianistinnen die Plätze getauscht haben. Dass es viel Applaus gab, viele Blumen und sogar eine Artischockenblüte für unseren Dirigenten. Dass er sie gehalten hat, als wäre es ein Knüppel.

Dass das mit den Blumen eine schöne Tradition ist. Dass es auch immer wieder Leute gibt, die zusätzlich kleine Geschenke hochreichen. Dass das gerade rund um Weihnachten und das Jahresende oft passiert. Dass es lustig ist, wenn da oben ein Dirigent steht, im Smoking, hochprofessionell, und unten eine Babuschka, die ihm einen Beutel mit selbstgebackenen Piroggen hochreicht.

Dass noch vor einigen Jahren das Moskauer Konzertpublikum meist aus alten Frauen und Musikstudenten bestand. Dass dann der Moskauer Bürgermeister irgendwann beschlossen hat, dass sich Straßenmusiker um die richtig guten Plätze bewerben müssen. Dass deshalb jetzt an einigen Stellen echte Profimusiker sitzen, und so alle Leute ein Verständnis dafür bekommen, was gute Musik ist. An welcher Metrohaltestelle man kaum umsteigen kann, weil im Durchgang zwischen den beiden Stationen immer zwei Musiker spielen, Cello und Geige, bei denen die Passanten stehenbleiben und applaudieren, und keiner kommt mehr vorbei. Wo in der Metro man eher Klassik hört und wo eher Rock. Dass Musik selbst in der Rushhour dafür sorgt, dass man mal kurz durchatmet.

Wie man „Korruption“, „Schmiergeld“, „verärgert“, „die Plätze tauschen“ und „durchatmen“ auf Russisch sagt und schreibt.

Die Hausaufgaben. Bewegungsverben mit allerlei Vorsilben, vor allem hin- und weg-. „Nach den Prüfungen sind die Studenten in ihre Heimatländer weggefahren.“ Dass родина (rodina) zwar „Heimat“ heißt im Sinne von Heimatland, man aber auch малая родина (malaja rodina) sagen kann, „kleine Heimat“, was dann den Geburtsort oder die Region bezeichnet, aus der man kommt: „meine kleine Heimat“.

Verschiedene Aspekte von Fortbewegungsverben. Bewegt sich jemand einmal oder mehrfach? Regelmäßig oder ausnahmsweise? Und der Ort, wo er sich hinbewegt hat – ist er da noch oder schon wieder weg? Wie sich die Deklination von „fahren“ leider komplett ändert, sobald es eine Vorsilbe bekommt. Hinfahren. Wegfahren. Losfahren. Abfahren.

Welche Fußballvokabeln wir letztes Mal besprochen haben. Ein Tor schießen. Ein Tor reinbekommen. Gegner. Regelverstoß. Platzverweis. Dann Neues: Wie groß ein Fußballplatz ist, und seit wann das so festgelegt ist. Dass zum Beginn jeder Halbzeit und nach jedem Tor der Ball auf den Mittelpunkt kommt. Dass es für die verschiedenen zeitlichen Abschnitte von sportlichen Wettkämpfen (Halbzeit, Runde, Satz) verschiedene russische Wörter gibt, aber alle aus dem Englischen kommen. Welchen Durchmesser der Anstoßkreis hat. Die unterschiedlichen Wörter für „Kreis“ = die Linie außen herum und „Kreis“ = die Fläche innerhalb dieser Linie. Wie hoch und wie breit ein Fußballtor ist.

Wie das Wetter am Wochenende wird. Ihre Wochenendpläne. Unsere Wochenendpläne. Ob Putin auf Nawalny wohl reagiert, indem er das Internet weiter beschränkt und Blogger verhaften lässt, oder ob er demnächst seinen eigenen Kanal bei Youtube aufmacht. Dass wir uns Montag wiedersehen. Auf Wiedersehen. Vielen Dank.

Manchmal kann ich nicht fassen, worüber wir in 60 Minuten Russischunterricht alles reden.

Beste Russischlehrerin der Welt hab ich schon gesagt?

Der Unterschied zwischen einer Großstadt und einer Riesengroßstadt

Metroplan Moskau und Kiew
Die Metronetze von Moskau (links) und Kiew.

Nichts gegen Moskau. Auf Moskau lass ich nichts kommen. Wäre Moskau anders, es wäre nicht Moskau.

Aber.

Moskau, Rushour, die Metro ist so voll, dass wir an jeder Haltestelle Menschenmikado spielen. „Iswinitje, Entschuldigung“, sage ich zu der Frau, mit der es mich diesmal zusammengeworfen hat, während wir sortieren, welcher Arm wem gehört. Sie guckt mich nicht mal an. Stille, und dieser leere Blick, der signalisiert: Wer ist diese gefährlich Derangierte, die hier einfach Blickkontakt aufnimmt, und was ist das für ein seltsamer Laut, den sie von sich gibt?

Nächster Halt, nächstes Bremsmanöver. Ein Mann steht auf meinem Fuß. Ich murmele automatisch eine Entschuldigung. Er schweigt, geht aber nach einigen schmerzhaften Momenten wieder runter vom Fuß, das reicht ja wohl. Kein Wort, nichts.

„Merkst du eigentlich nicht, dass du die einzige bist, die sich entschuldigt?“, sagt ein deutscher Freund irgendwann. „Lass das doch einfach. Du outest dich bloß als Fremde.“

Kiew, Rushour, die Metro ist voll, aber man hat immerhin noch Platz für sich und seine Ellenbogen. Zwei Jungs, vielleicht 12 oder 13, steigen ein und stellen sich neben mich. Kurz darauf guckt mich einer an und murmelt etwas.

Ich: „Iswinitje?“ – Er: „Murmelmurmel.“ – Ich: „Ich verstehe Sie nicht.“ Ein Mann, der daneben steht, springt ein, auf Englisch: „Er hat „Iswinitje“ gesagt, das heißt „Entschuldigung“. Weil er sie doch eben angerempelt hat.“

Das zählt hier also als Anrempeln. Hatte ich nicht mal bemerkt. An der nächsten Haltestelle muss ich raus, schiebe mich an den beiden vorbei und sage, reflexhaft, natürlich: „Iswinitje.“ „Byebye“, antwortet der eine leise.

(Danke an Gareth Barnaby für das Bild mit den Metroplänen)

Ein Russe mit Triple-A-Rating

Gegenüber der Leninbibliothek gibt es eine kleine Straße, in der man nur selten Touristen trifft. Wer eine Moskauer Sehenswürdigkeitenliste abarbeitet, läuft ein paar Meter weiter östlich parallel die Mochowaja-Straße entlang, mit Blick auf den Kreml und die Manege. Der Romanow-Pereulok dagegen zeichnet sich dagegen bestenfalls dadurch aus, dass er an der Rückseite der Journalistischen Fakultät entlangführt, an einer Raiffeisenbank – und an dem Haus mit dem roten Sockel und den vielen Gedenktafeln.

Viele mittelgroße Sowjetgrößen haben hier gelebt, zentral und durchaus prestigeträchtig: Marschall Iwan Stepanowitsch Konew, dessen Einheiten Auschwitz und später auch Prag befreiten. Wladimir Pawlowitsch Barmin, der am Weltraumbahnhof in Baikonur mitgebaut hat. Alexei Alexandrowitsch Kusnezow, kommunistischer Parteifunktionär, der mal als Stalins Nachfolger gehandelt und dann auf Stalins Geheiß hingerichtet wurde. Sabit Atajewitsch Orudschew, sowjetischer Öl- und Gasminister.

Für jeden von ihnen wurde hier eine Gedenktafel angebracht – meist mit Porträt, dazu eine kleine Biografie, die Schrift in Grabsteinoptik. Aber keine der Tafeln hat es mir so angetan wie das schlichte, schwarze Rechteck mit den grauen Buchstaben. Kein Porträt, nur Text, alles ganz dezent. Aufgehängt zur Erinnerung an Andrej Andrejewitsch Andrejew. Als ich eben meine Fotos aus dem Romanow-Pereulok auf dem Handy gesichtet habe, stellte sich raus: Dieses Motiv habe ich schon mehrfach fotografiert.

Andrej Andrejewitsch Andrejew

Auch Andrejew fällt in die Kategorie „mittelwichtig“, oder besser noch, wie Kusnezow: „war mal ziemlich wichtig und verlor dann an Macht“. Auf diesem Foto aus dem Jahr 1935 ist er der Mann im schwarzen Anzug, der vor Stalin steht und aussieht wie die Monty-Python-Version eines französischen Malers. Im Politbüro war er vor allem für Landwirtschaft zuständig, Wikipedia hält über Andrejew noch den schlicht-schönen Satz bereit: „Nach ihm wurden Lokomotiven benannt.“

Man merkt, es sind nicht Andrejews Taten, die ihn zu meinem Favoriten in Sachen Gedenktafeln machen. Dass seine mir die Liebste ist, liegt weder an Landwirtschaft noch an Lokomotiven, sondern bloß am Klang. Ich weiß noch, wie ich ihn mir im Kopf vorgesprochen habe, als das Kyrillischlesen noch schleppte. Wie ich mich gefreut habe über Andrej (!) Andrejewitsch (!) Andrejew (!), diesen Dreiklang aus Vorname, Vatersname und Nachname!

Putin mag Wladimir Wladimirowitsch heißen, an Andrejew kommt er erst dann heran, wenn er seinen Nachnamen auf Wladimirow ändert. Andersrum ist meine stille Hoffnung, dass der Fußballspieler Wladimir Wladimirowieser bulgarische Fußballspieler oder Professor Wladimir Wladimirow vielleicht einen Vater namens Wladimir hatte und sein „Wladimirowitsch“ nur vergessen hat, zu erwähnen.

Vor allem aber wünschte ich, es gäbe einen Begriff dafür, wenn ein Russe seine drei Namensbestandteile so schön synchronisiert. Хет-трик (Hattrick) könnte man sagen, klar, aber das ist so allgemein. „Doppelt gemoppelt“ ist zu wenig.

Schön wäre irgendwas zwischen „Namens-Fullhouse“ und „The Real McCoy“, zwischen „Ein-Mann-Triumvirat“ und „Hendiatryoin“, um ihnen allen gerecht zu werden: Nicht nur meinem Moskauer Andrej Andrejewitsch Andrejew, sondern auch Iwan Iwanowitsch Iwanow, Nikolai Nikolaiewitsch Nikolajew und den anderen, so es sie denn gibt. Am besten noch mit einem Ritual dazu: Wem ein solcher Name begegnet, der muss irgendetwas Albernes rufen, sich dreimal um sich selbst drehen und hat dann einen Wunsch frei. Das gilt dann, bitte, ab sofort. Ich stelle mich in den Romanow-Pereulok und überprüfe das.

Komm, wir essen Golgatha

Ostern in Moskau, mit Besuch, und der Besuch mit Kind. Da wächst der Ansporn, ein paar russische Ostertraditionen zu präsentieren. Der Osterkuchen „Kulitsch“ (wie Panettone, nur trockener, dafür mit Zuckerguss und Zuckerstreusel) braucht Begleitung. Traditionell gehört zu einem russischen Ostertisch darum пасха, gesprochen PAS-cha, mit einem ch wie in „Bach“. Das ist insofern praktisch, als Пасха mit großem П auch das Wort für Ostern selbst ist. 


Eine große Portion Ostern zu Ostern soll es also geben. Dazu brauchen wir Butter, Zucker, Hüttenkäse bzw. Quark, Eigelb, Vanillezucker, Rosinen und Sahne. Leicht sind hier weder die Zutaten noch die Herstellung, denn man braucht besonderes Equipment.


Zwei Dinge musste ich extra kaufen: im Supermarkt eine spezielle Pascha-Form aus Plastik zum Zusammenstecken, und in der Apotheke Mull, um die Form damit auszulegen. Schließlich verarbeiten wir hier weitgehend Zucker und Fett, das Ergebnis wird also kleben. 

Der Mull soll dafür sorgen, dass die Pascha zwar die Muster der Form annimmt (einen Kirche, eine Taube, ein orthodoxes Kreuz und die kyrillischen Buchstaben ХВ für „Christus ist auferstanden“), aber doch im Ganzen aus der Form herauskommt. 
Am Ende steht, hoffentlich, eine Art Pyramide ohne Spitze, ein oben abgeflachter Berg. Die Süßspeise soll nämlich an Golgatha erinnern, den Hügel, auf dem Jesus gekreuzigt wurde. Seltsam, sowas auf dem Tisch stehen zu haben? Vielleicht, aber auch nicht seltsamer als ein Christstollen, der in Form und Farbe an das eingewickelte Jesuskind in der Krippe erinnern soll. 


Doch ehe hier ein neutestamentarischer Kreuzigungshügel aus Kalorien entstehen kann, müssen erst mal alle Zutaten schön zusammengematscht werden. Den Mull so in die Form legen, dass die Falten möglichst innen an den Kanten entlanglaufen. Die Masse einfüllen, festdrücken, oben den Mull zusammenschieben. Mit einem Teller drunter und einem Gewicht obendrauf, kommt das Ganze dann in den Kühlschrank, am besten für ein, zwei Tage. In der Zeit muss man gelegentlich die Flüssigkeit abgießen, die aus der Pascha heraussickert. 

Endlich Ostersonntag und damit Zeit, das Ding zu stürzen. Der Mull lässt sich leicht abziehen und gibt dem Akt einen Hauch von Enthüllungsfeierlichkeit. Das Probeessen ergibt: süß, cremig, macht glücklich. Frohe Ostern allerseits! Wer will noch ein Stück Golgatha? 

 

Confed-Cup in Russland: Angenommen, man wollte ein Fußballspiel sehen…

Noch zwei Monate bis zum Confed-Cup in Russland, und Witali Mutko ist unzufrieden. Statt 700.000 Eintrittskarten erst rund 200.000 verkauft, berichtete der frühere Sportminister und aktuelle Chefplaner des Turniers, und das zwei Monate vor dem Eröffnungsspiel.

Es mag daran liegen, dass die Karten nicht gerade günstig sind, erst recht gemessen an einem russischen Durchschnittsgehalt. Zwar ist die „Kategorie 4“ mit den die billigsten Tickets für Russen reserviert, zu ihr gehören aber auch nur wenige Plätze. Es mag an der kleinen Besetzung eines Confed-Cups mit gerade mal acht Mannschaften liegen. Oder an all den Hürden, die man als Fan so nehmen muss, um bei einem Spiel dabei zu sein.

Wer beim Confed-Cup (oder nächstes Jahr bei der Fußball-WM) ins Stadion will, der muss nicht bloß eine Karte kaufen – und dabei online innerhalb von 15 Minuten mehr personenbezogene Daten preisgeben als man braucht, um etwa einen Flug von Moskau nach Düsseldorf zu buchen. Geld und Datensatz reichen der FIFA nicht, es braucht zusätzlich noch die sogenannte Fan-ID.

FIFA Russland FAN-ID

Die erteilt die FIFA im Tausch gegen, na klar: noch mehr Daten, einschließlich Foto. „Der Hintergrund,“ mahnt sie, „muss das Gesicht hervorheben sowie gleichmäßig und wünschenswerterweise hell sein“. Aber gerne doch. Hochgeladen. Und tatsächlich kommt keine 24 Stunden später die SMS: Die Fan-ID ist fertig.

Wer sich nicht auf die russische Post verlassen will (und wer will das schon), muss die Fan-ID abholen. Nicht etwa an einem der großen Fußballstadien, in einem Einkaufszentrum oder einem Büro irgendwo am Roten Platz, das wäre ja einfach. Nein, das „Fan ID Distribution Center“ ist in einer dieser Nebenstraßen, die niemand findet, der nicht gründlich sucht. Nicht weit von der Metrostation „Pawelezkaja“ und dem dazu gehörenden Fernbahnhof – mit genug Ausgängen, um erst mal zwei, drei falsche zu erwischen. Darum hier ein kleiner Laufzettel:

Auf dem Metro-Bahnsteig an den Schildern Richtung Domodedowo (auch in kyrillischer Schrift gut zu erkennen) orientieren. Es geht die Rolltreppe hoch…

FAN-ID Russland Confed Cup Metro

…durch die Schleusen…

FAN-ID Russland Confed Cup Aeroexpress

…und dann hinaus aus dem Gebäude. Netterweise zeigt ein Automat der Alfa-Bank im WM-Design den Weg.

FAN-ID Russland Confed Cup Bahnhof

Apropos Banken: Draußen rechts abbiegen, und nach ein paar Schritten sieht man bereits das Gebäude der Rosinterbank. Da drauf zuhalten, bis man sieht, dass im Erdgeschoss…

FAN-ID Russland Confed Cup Bankgebäude

…Burger verkauft werden. Hier muss der Confed-Cup-Möchtegern-Fan rechts um die Ecke.

FAN-ID Russland Confed Cup Burger King

Jetzt sind wir auf der Letnikowskaja-Straße und suchen nach Hausnummer 10, Gebäude 4. (Hausnummern sind in Russland oft noch mal unterteilt). Wer links den Wikimart sieht, ist richtig…

FAN-ID Russland Confed Cup Wikimart

…wer vor dieser Leitung steht, zu weit.

FAN-ID Russland Confed Cup Gasleitung

Das liegt daran, dass ausgerechnet Haus Nummer 10 ein Stück von der Straße zurück liegt. Alles nicht so einfach. Also: zurück, und dann an dem großen Gebäude mit der 10 links vorbei.

FAN-ID Russland Confed Cup abholen

FAN-ID Russland Confed Cup Eingang

Natürlich ist, im Gegensatz zum Geldautomaten, das Fanzentrum nicht im Design der WM und des Confed-Cup gestaltet, das wäre ja auch zu einfach. Trotzdem beginnt nun der leichte Teil der Exkursion. Am Eingang ein Automat, an dem ich Fan in fünf Sprachen eine Nummer ziehen kann. Sicherheitshalber steht auch noch ein Helfer daneben, der einem den einzig nötigen Tastendruck abnimmt. Betreutes Warten.

FAN-ID Russland Confed Cup Schalter

35 Schalter, eine Handvoll von ihnen besetzt, außer mir will sich gerade nur ein anderer Fan von der FIFA bescheinigen lassen, dass er existiert. Auf Bildschirmen läuft der russische Sportsender „Match“, Ufa spielt gegen Spartak. Keine zwei Spielzüge, schon blinkt meine Nummer auf, eine freundliche Frau lässt sich den Pass zeigen und lobt das hochgeladene Foto: „Ja, das geht, da müssen wir kein neues machen. Dann mache ich die ID jetzt fertig und rufe Sie wieder auf.“ Großartiges Englisch, professionelle Freundlichkeit. Wer es als Fan einmal bis hierher schafft, der muss sich über den Rest keine Gedanken mehr machen.

Kurz darauf stehe ich vor dem Haus und verstaue die laminierte Karte samt Umhängeband in der Tasche, als mich die Frau vom Schalter anspricht. „Na, gefällt Ihnen Ihr Ausweis?“ Sie stellt sich als Alex vor und erzählt eine dieser Biografien, wie ich sie schon oft in Russland gehört habe (fast immer von Frauen, die sich mit Vehemenz und viel Initiative hinter ihre Ausbildung geklemmt haben): Im zweiten Schuljahr habe sie beschlossen, dass Englisch die Sprache ihres Lebens sei und alles daran gesetzt, sie perfekt zu beherrschen. Nein, keine Auslandsaufenthalte, alles nur Selberlernen.

In Zukunft, sagt sie noch, soll man seine Fan-ID dann auch am Flughafen abholen können – und meint damit wohl eher bei der Fußball-Weltmeisterschaft als noch beim Confed-Cup. Spätestens dann muss also niemand mehr diesen Hinterhof in einer Seitenstraße finden, bloß um ein Fußballspiel besuchen zu dürfen. „Vielleicht sehen wir uns ja im Stadion, wenn unsere Mannschaften gegeneinander spielen“ sagt Alex zum Abschied. „Hoffentlich im Finale“, antworte ich.

FAN-ID Russland Confed Cup Bändel

1000

vokabeln russisch karteikarten

Andere Leute führen Vokabelhefte, ich schreibe auf Kärtchen. Ist auch viel praktischer, weil man die in der Hosentasche dabei haben und dann im Bus üben kann, was ich mit großer Konsequenz unterlasse. Aber das Ritual steht: Neue russische Wörter werden auf ein Kärtchen geschrieben, Bedeutung auf die Rückseite. Und wenn sie am Wochenende im Blickfeld rumliegen, gehe ich die Kärtchen auch tatsächlich mal durch.

Ja, Kärtchen, genau richtig, super Sache, hatte damals 2013 auch die Dozentin beim Russisch-Intensivkurs in Kaliningrad gesagt, gibt es bei uns nur halt leider nicht. Sie meinte in Kaliningrad, aber sicherheitshalber habe ich Moskau dasselbe unterstellt und vor dem Umzug noch in Deutschland einen Tausenderpack gekauft. Und nun, nur drei Jahre später, liegt sie vor mir auf dem Tisch: die letzte von tausend Vokabelkarten, vollgeschrieben.

Nein, das bedeutet nicht, dass ich in drei Jahren exakt tausend Vokabeln gelernt habe. Einerseits spiegelt die 1000 die ganzen Dinge nicht wieder, die man so nebenher, abseits vom Unterricht, aufsaugt. Das Redaktionsvokabular, die Anweisungen aus der Chorprobe, das Supermarktsortiment. Slang von der Tandempartnerin, der ich конечно черешня (alles Klärchen), круто (geil) und сорямба (tschuldigung) verdanke. Andererseits kann ich auch nicht ganz ausschließen, dass auf der einen oder anderen Karte keine Vokabeln notiert wurden, sondern Telefonnummern, Einkaufslisten und Adressen.

Alles egal. Es ist ein stolzer Stapel vollgeschriebenener Karten, und sie durchzugehen macht gleich mehrfach Freude. Zu sehen, wie die Vokabeln, Floskeln, manchmal auch kleinen Sätze komplexer werden. Sich daran erinnern, welche im Lehrbuch vorkamen – und welche Tatjana, die Lehrerin, souffliert hat, wenn wir die Stunde wie immer begannen mit: „Was haben Sie erlebt, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben?“ Приключение, Abenteuer. Воздушный шар, Luftballon. У всех были разные напитки, alle hatten unterschiedliche Getränke.

Ich habe gelernt, dass „Baby“ wörtlich „Brustkind“ heißt (грудной ребёнок) und „fleißig“ wörtlich „arbeitsliebend“ (трудолюбивый). Dass man einen Dummen „Baumstumpf“ nennt (пенёк) und eine Beule „Tannenzapfen“ (шишка). Dass man zu einem Klassenkameraden одноклассник sagen kann – der, mit dem ich in derselben Klasse war – oder однокашник – der, mit dem ich dieselbe Kascha gegessen habe, den russischen Frühstücksbrei. Dass молния sowohl ein Blitz ist als auch ein Reißverschluss, und dass OOO nichts mit Carmina Burana zu tun hat, sondern die russische GmbH ist.

Manchmal ist Russisch pures Französisch, nur mit anderen Buchstaben: жанр (gesprochen „schanre“, mit einem weichen Anlaut wie in „Journalismus“) ist das Genre, натюрморт („natjurmort“) ist ein Stilleben, und wer nachhält, wie lange ein Läufer für seine Strecke braucht, kümmert sich um die хронометраж („kronometrasch“).

Es gibt gefühlt unzählige Vokabeln für „Vorwort“ (geht es um ein Buch, einen wissenschaftlichen Text, ein Theaterstück?) und mindestens genau so viele für „mieten“ (Was mieten wir denn so? Ein Haus, ein Fahrrad oder doch eher einen Seminarraum?). Der Glaube, dass in Russland alles besser ist, einfach weil es russisch ist, heißt квасной патриотизм, Kwaspatriotismus.

Die Russen unterscheiden zwischen Антарктида (Antarktida, die Antarktis als Kontinent) und Антарктика (Antarktika, die Antarktis als Region – bestehend aus dem Kontinent, dem Wasser und den Inseln drumherum). Sie sagen zum Morgenmantel халат und zu Schlampigkeit халатность, also Morgenmanteligkeit. Und wenn ihr Kind ein gutes Zeugnis mit nach Hause bringt, loben die Eltern: я горжусь тобой – ich stolze mich mit dir.

Ich war dann neulich im Dom Knigi, neue Kärtchen kaufen. Gezeigt bekam ich, nach mehreren Erklärversuchen, Foto-von-Karteikarten-zeigen und viel Google Translate: Post-Its. Liniertes Papier. USB-Sticks. Notizblöcke. Winzige Pappkarten an einer Art Schlüsselbund. Auch die Erinnerung an die Vokabelkarte zuhause, auf der обычный stand, half nicht – in Russland sind das eben keine „gewöhnlichen“ Karten.

Im April kommt Besuch. Der bringt die nächsten tausend Kärtchen mit.

Tag des Flauschverteidigers

Was sich geändert hat in den knapp drei Jahren, seit Russland die Krim annektiert hat: Die Karten zum 23. Februar sind weniger martialisch geworden. Ja, der Feiertag heißt immer noch „Tag des Vaterlandsverteidigers“, es ist schul- und für die meisten auch arbeitsfrei. Betritt ein Mann an diesem Tag ein Café oder ein Geschäft, darf er sich auf Glückwünsche einstellen. Egal, ob er tatsächlich Soldat ist oder doch eher Sachbearbeiter, Hausmann, Lehrer oder Automechaniker: jeder ein Vaterlandsverteidiger, potenziell.

2015 sahen die Grußkarten im Dom Knigi, dem großen Buchladen, noch so aus wie diese hier. Panzer, Nationalfarben, Militarismus. Auch gerne genommen: Kampfflugzeuge, Orden und andere Ehrenzeichen, Georgsbänder und rote Sterne.

2017, derselbe Buchladen. Noch immer hängt über der Information ein gerahmtes Putin-Porträt, an vaterländischem Enthusiasmus scheint es also nicht zu fehlen. Doch die Grußkarten sind diesmal anders. Weiß-rot-blaue Girlanden gibt es noch gelegentlich, für Traditionalisten auch Nelken, hier und da Tarnfleck. Panzer, Raketen oder Kampfjets hingegen finden sich keine, das Design ist durch die Bank weniger martialisch. Ziviler. Flauschiger.

Eine kleine Auswahl, willkürlich zusammengestellt und gekauft – und doch sagt sie viel aus mit ihren Kuschelkatzen, dem durch und durch zivilen Anzug, den betont verspielten Schrifttypen. Selbst vom „Tag des Vaterlandsverteidigers“ ist nur auf einer von ihnen die Rede, die anderen belassen es beim 23. Februar oder paraphraseln was vom „Tag der echten Männer“.

Und auch der Text in den Karten belässt es bei gelegentlichen Anspielungen aufs Soldatenleben: Neben Glück und Gesundheit sollen sich die Empfänger auch über „regelmäßige Siege“ freuen, über eine „Nachhut“, die ihm den Rücken frei hält.

Besonders eloquent ist das in der Katzen-und-Hund-Karte formuliert: „Auch wenn du keine Uniform trägst, können wir stolz auf dich sein. Durchschnittliche Männer gibt es Millionen, aber solche wie dich nur selten: Stark, mutig, zielgerichtet, immer nach Erfolg strebend. Mögen die Frauen stets mit Liebe auf dich blicken, gebannt vor Begeisterung!“

(Wem das alles zu verweichlicht ist: Zur Vorbereitung auf den 9. Mai bietet ein Moskauer Kindergarten Eltern an, ihren Nachwuchs in Uniform und mit Waffen fotografieren zu lassen.)

Erotisches Butterbrot

Schon als wir ganz neu hier in Moskau waren faszinierte mich der Hausflur, der zur Übergangswohnung gehörte, genauer gesagt: das Bücherregal. Dass eine fremde Hand Bücher für einen hinlegt, passiert hier gar nicht mal so selten. Diese Schmonzette hier zum Beispiel hielt die Hausmeisterin eines Gebäudes bereit, in dem wir über AirBnB Gäste untergebracht hatten. Oder doch lieber ein Buch über einen Hausgeist, aussortiert von den Nachbarn? Die Geschichte vom Amphibienmann wiederum lag mal bei Rezeptor rum, einer Kette vegetarischer Cafés.

Aktueller Spitzenreiter in der Kategorie „wir haben da mal ein Buch hingelegt“ ist aber das Fundstück von gestern Abend. Irgendwo nahe der Metrostation Kurskaja waren eine Freundin und ich ins erstbeste Café gegangen, das wir in all seinem überbeleuchteten, unterbegrünten Charme dann auch komplett für uns hatten. Auf dem Tisch Apfelstrudel und Tee, auf der Fensterbank dieser Band hier:

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Erotische Küche für jeden Tag“ – was da allein schon das Titelfoto alles verspricht: Herztorte! Bananen! Mit undefinierbarem Gemüse gefüllte Röllchen! Zu einer Torte arrangierte Bratenscheiben mit Kirschtomaten! Alles Klassiker geübter Verführungsköche, klare Sache.

Innendrin leider keine Fotos mehr, nur noch sporadische Zeichnungen. Das Buch mag von 2006 sein, die Gestaltung erinnert eher an die Siebziger. Dafür entschädigt das Inhaltsverzeichnis: Was sich hier an poetischer Strahlkraft Bahn bricht, ist schon bemerkenswert.

Ein armer, einsamer Kochbuch-Redakteur muss Stunden und Stunden damit verbracht haben, sich diese Namen auszudenken. Begonnen hat er dabei ganz handfest mit dem Kapitel „бутерброд“ (buterbrod), also mit belegten Broten. Einer ganzen Seite voll.

erotische butterbrote russland kochbrot

Sandwich „Bouquet der Leidenschaft“, Seite 16. Sandwich „Matrosenliebe“, Seite 17. Sandwich „Feigenbaum“, Seite 19. Zwischendurch schwächelt der Texter kurz und führt ein profanes „Sandwich mit Auberginen“ auf, fängt sich dann aber wieder zugunsten der großen erotischen Küchenlyrik: Sandwich „Halbmond“, Sandwich „Amors Pfeil“, Sandwich „Herzensfreund“.

Langsam kommt uns unser Apfelstrudel arg profan vor. Hätten wir mal jede ein Sandwich „Nach Mitternacht“ von Seite 27 bestellt! Oder doch das Kartoffelgericht „Lambada“ von Seite 149?

Wir blättern dann noch ein wenig in den erotischen Salaten („Schwanentreue“, „Wolke Sieben“, „Des Zaren Freude“), den Suppen („Illusion“, „Versuchung“) und den Omelettes („Tanz in der Nacht“, „Weiße Rosen“, „Herzdame“), da fällt aus dem Buch eine Grußkarte, mit rosa Blumen und zwei funkelnden Eheringen: „Liebe Kinder, ich gratuliere euch zum ersten Hochzeitstag! Möget ihr noch viele solche Jahrestage feiern: zehnte, zwanzigste, sechzigste. Dicke Küsse, Mama.“ Darauf trinken wir. Auch wenn es nur Tee ist und nicht der Cocktail „Romantisches Gefühl“, Seite 173.

Russische Landeskunde mit Schoko-Bonbons

Es gibt so Momente: Abendessen im Restaurant, Gespräch mit einer netten Zufallsbekanntschaft. Ich schwärme von meiner Russischlehrerin: So klug, so reflektiert, so humorvoll, so kritisch. Erklärt anschaulich, geht auf ihre Schüler ein, kennt sich mit Geschichte, Politik, Kultur genau so aus wie mit dem Alltag von Kindergarten bis Rente, mit der Sowjetunion ebenso wie mit dem heutigen… „Ach so,“ sagt die Tischnachbarin, „du bist bei Tatjana! Bei der hatte ich früher auch Unterricht – schöne Grüße!“

Die beste aller möglichen Russischlehrerinnen hat viele Pluspunkte. Ihr vielleicht größter ist die Begeisterung, wann immer man ihr mit einer Frage aus dem echten Leben kommt, denn die haben immer Vorrang. Als jetzt zum ersten Mal im neuen Jahr das Wort „Grammatikübungen“ fiel, habe ich sie darum gefragt, ob wir nicht noch mal auf ein Thema von vor ein paar Monaten zurückkommen könnten – diesmal für mich zum Mitschreiben und Bloggen: конфеты (Konfeti). Pralinen also, oder besser: Schokoladenbonbons, und was sie und ihre Verpackung über die Geschichte dieses Landes erzählen.

***

„Dass wir zu Sowjetzeiten so gutes Konfekt hatten, hat mich immer gewundert. Vielleicht, weil die Fabriken und die Rezepte sich schon vor der Revolution etabliert hatten und an den Standards dann festgehalten wurde? Jedenfalls gab es zwei große Marken, Babajewski und Roter Oktober. Das waren die teuren, guten Schokoladenbonbons, für Feiertage, als Geschenk, oder um sie zum Neuen Jahr in den Baum zu hängen.“

Mischka kosolapi Bonbons

„Eine der ältesten Bonbonsorten ist „Mischka kossolapi“, das tollpatschige Bärchen, nach einem Gemälde von Iwan Schischkin, „Morgen im Kiefernwald“. Das war die Zeit, als selbst Bonbonpapiere lehrreich sein sollten – russische Natur, russische Künstler, solche Motive halt, und stilistisch immer Realismus. Dieses Gemälde hing damals auch wirklich in jedem Hotel, jedem Restaurant, jeder Schule. Schischkin gilt als der echteste, der russischste Maler – dabei konnte er eigentlich nur ein Motiv, den Wald. Selbst die Bären auf dem Bild hat ein Freund von ihm gemalt. Später gab es dann noch „Mischka na severje“, das Bärchen im Norden. Das schmeckte ein bisschen anders, und auf dem Bonbonpapier war ein Eisbär abgebildet.“

Krasnaja Schapotschka Rotkäppchen Bonbons

„Für uns Kinder waren die фантики (Fantiki), die Bonbonpapiere, genau so wichtig wie die Bonbons selber. Diese Papierchen und bunte Glas- oder Porzellanscherben, das waren die zwei Dinge, die wir gesammelt und untereinander getauscht haben. Und Krasnaja Schapotschka, Rotkäppchen, habe ich geliebt – weil man sah, das war kein russisches Mädchen, die Kleidung war anders, irgendwie besonders. Meine Mutter hat mir dann das komplette Outfit genau so nachgeschneidert, fürs Kostümfest im Pionierlager.“

Belotschka russische Bonbons

„Das hier ist auch eine sehr alte Bonbonsorte: „Belotschka“ heißt das Eichhörnchen in einer Erzählung von Puschkin, „Das Märchen vom Zaren Saltan“. Es knackt goldene Nüsse, und in jeder ist ein Smaragd drin. Deshalb sind in diesem Bonbon auch Nussstücke drin. Dieses Prinzip, dass der Inhalt zum Motiv auf der Verpackung passen muss, ist mir besonders von einem anderen Bonbon in Erinnerung geblieben, das war gelb und hieß Kara-Kum – auch wieder lehrreich, diesmal sollten wir den Namen einer sowjetischen Wüste lernen. Wenn man in das Bonbon gebissen hat, waren da ganz kleine, harte Karamelsplitter drin. Als ob man auf Sand beißt – das mochte ich nie.“

Aljonka Bonbons Russlan

„Die Aljonka-Bonbons wurden Ende der Sechziger herausgebracht, also nach Chrustschows Tauwetter. Plötzlich nichts Lehrreiches mehr auf der Verpackung, sondern einfach dieses Mädchen. Nicht mal eine Pionierin, keine Pose. Mein Onkel hat damals meiner Cousine so ein Kopftuch umgebunden und sie genau so fotografiert wie Aljonka auf dem Bonbonpapier. Kopftuch, Knopfaugen – so sahen wir Mädchen damals ja alle aus.“

Wdochnowenije Inspiration Bonbon

„Dieses Motiv heißt „Wdochnowenije“, Inspiration, und alles dreht sich ums Ballett: die Fassade des Bolschoi in Gold, darunter die beiden Tänzer im Scheinwerferlicht. Ursprünglich gab es dieses Motiv nicht als Bonbon, sondern als Schokoladentafel, mit einzeln verpackten Riegeln – so wie Kinderschokolade in Deutschland. Dann konnte ein Kavalier bei einer Ballettaufführung in der Pause seiner Dame Schokolade anbieten, ohne dass jemand Stücke abbrechen und sich die Finger mit Schokolade verschmieren musste.“

Weltraum-Odyssee Bonbon

„Dieses Bonbon heißt „Kosmitscheskaja Odisseja“, Weltraum-Odyssee. Polarexpeditionen, Raumfahrt, Atomspaltung – immer, wenn es in der Sowjetunion große Begeisterung für etwas gab, wurde auch ein passendes Bonbon erfunden. Ich habe tatsächlich als Kind Bonbons gegessen, die „Radii“ hießen, also Radium. Und es waren ja nicht nur die Bonbons: Damals gab es in meinem Freundeskreis gleich zwei Jungen, denen ihre Eltern den Namen „Elektron“ gegeben hatten. Beim Spielen haben wir sie dann halt „Elek“ gerufen, das war nicht so lang.“

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Es gäbe noch mehr zu bloggen, wir haben uns schließlich eine ganze Unterrichtsstunde lang mit den Bonbons befasst. Welche Form sie haben müssen, mit den spitz gefalteten Ecken. In welchem Wodka drin ist und welches Moskaus Kaufleute und Mäzene würdigt. Aus welchen drei Schichten die Verpackung bestehen muss – die bunt bedruckte, darunter Folie, darunter Pergament. Geht aber leider nicht, denn ich muss mich auf die nächste Stunde vorbereiten. Übungen zu den Präpositiv-Endungen von Substantiven und Adjektiven stehen an. Diesmal dann wohl wirklich.

Wochenende in Moskau: Einfach mal machen

Nach einer Woche, die beruflich unnötig ärgerlich war und vor einer Woche, die den ersten Schnee bringen soll, hilft es, wenn das Wochenende es einem mal so richtig zeigt. Was es heißen kann, in dieser Stadt zu leben und Wurzeln geschlagen zu haben. Wie es ist, wenn man Leute gefunden hat, für die „warum nicht“ Grund genug ist, etwas auszuprobieren. Wo man sich plötzlich wiederfindet, wenn man sich Moskau einfach mal ausliefert – und am Montagmorgen immer noch davon zehrt.

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Samstag, früher Nachmittag. Wenn man das Puschkinmuseum, die alte und die neue Tretjakowgalerie, das Garage-Museum für moderne Kunst, das Multimedia Art Museum, das Moscow Museum of Modern Art, das jüdische Museum, das Museum für sowjetische Spielautomaten, das Kosmonautenmuseum, das Darwinmuseum, das Museum des Russischen Impressionismus, das Zentralmuseum des Großen Vaterländischen Krieges, das Zentralmuseum der russischen Streitkräfte, das Oldtimermuseum, das Borodino-Museum, das Museum für Orientalische Kunst, das Zoologische Museum, das Geologische Museum und das Architekturmuseum durch hat – dann, ja dann findet man sich plötzlich im Moskauer Museum für Straßenbeleuchtung wieder.

Also stehen G. und ich nun in einem von vier Kellerräumen und bekommen erzählt, dass damals zur Krönung von Alexander II. in Moskaus Straßen eine Festbeleuchtung aus 27.000 Öllampen in grünen Glaszylindern strahlte. Wie nach Öl und Kerosin erst Gas und dann Elektizität kamen (mit Osram-Glühbirnen aus Deutschland, das Museum zeigt dazu einen Werbespot aus dem Sechzigerjahre-Deutschland, in dem Osram-Glühbirnen Verkehrsunfälle und Raubüberfälle verhinden).

Wir sehen Verdunkelungsschilder aus dem Zweiten Weltkrieg („Licht im Fenster hilft dem Feind“), Stehlampen, Hängelampen und eine der 5000-Watt-Leuchten, die in den roten Sternen auf den Spitzen der Kremltürme stecken. Das Museum ist, soviel merkt man sofort, seinen Machern eine Herzensangelegenheit.

Sie erklären die Pulte, von denen aus einst Stadtteil für Stadtteil Moskaus Lichter angeknipst wurden, und zeigen eine Vitrine mit Birnen, in denen statt Drähten kleine Kunstwerke glühen: Blumen, Tiere, ein Schneemann. „Woher haben Sie denn von unserem Museum erfahren?“, fragt die Kassenfrau leicht perplex uns zwei erkennbare Ausländerinnen. Und überhaupt, wenn uns Straßenbeleuchtung interessiert: Im Sommer bietet das Museum auch Stadtrundgänge zum Thema an.

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Um den Tisch sitzen acht Leute aus fünf Ländern und reden Englisch, jedenfalls meistens. Nicht alle kennen sich, aber alle kämpfen mit derselben Speisekarte auf Koreanisch und Russisch, wechseln durch ihre jeweiligen Sprachen und die dazugehörigen Übersetzungs-Apps: Okay, Reis, Möhren, Zucchini – und was ist da noch drin? Kennst du das Wort? Sag’s noch mal langsam in deiner Sprache, vielleicht erkenn ich’s ja wieder? Wir entschlüsseln Fleisch- und Gemüsesorten, ehe wir irgendwo zwischen „Alge“ und „Farn“ kapitulieren. Passt schon. Mal sehen, was kommt.

Der Ort ist unterirdisch und es ist schwer, darin keine Metapher zu sehen, denn wir sind in Moskaus einzigem nordkoreanischen Restaurant. Es geht das Gerücht, dass es zur Botschaft gehört und dazu dient, mit Einnahmen in ausländischen Währungen das System zu stabilisieren. Ob der Rubel dabei eine große Hilfe ist? Alle Kellnerinnen sehen gleich aus – gleichgroß, gleichjung, gleichschön, gleichlange Haare, gleiche Frisur, gleiche Kleidung, gleiche Plateausohlen. Auf einem Fernseher läuft in Dauerschleife ein Konzert der Band Moranbong, im Publikum synchron applaudierende Militärs.

Dass das Essen auf keinen Fall in der Reihenfolge eintrifft, in der man es bestellt – wer würde es in Russland anders erwarten. So essen sechs von uns also in Etappen ihr scharfes Bibimbab (oder, wie die Speisekarte es erklärt, „Plow nach Pjönjanger Art“), danach kommen die Vorspeisen, darunter eine Art Pfannkuchen aus Maiskörnern, zusammengehalten von irgendwas zwischen Aspik und Fugensilikon. Und zum Schluss die Nudelsuppe für die zwei verbleibenden Hungrigen, am Tisch angerichtet. Die Kellnerin gibt gekochte Nudeln in zwei große Metallschalen, dann Fleisch und Gemüse, dann Wasser aus einem silbernen Teekessel mit schmaler Tülle. Die Kellnerin verschwindet, die beiden Nudelsuppenbesteller fangen an zu essen: Die Suppe ist kalt. Nicht abgekühlt, sondern nie warm gewesen. Gehört wohl so. Kurz darauf trifft eine weitere Vorspeise ein.

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Sonntag Nachmittag und ich weiß nichts, außer dass M. mich heute zum Segeln mitnimmt. Fünf Jahre lang hat er in einem anderen Land „reichen weißen Kindern“ das Segeln beigebracht. Meine Segelerfahrung beschränkt sich auf die kälteste Woche meines Lebens, damals, kurz vor Ostern, auf einem Schiff auf dem Ijsselmeer. Nach Anweisung von M. bin ich heute 1. extrem warm angezogen und 2. pünktlich an unserem Treffpunkt, einer Hofeinfahrt im Moskauer Zentrum, in der ein knatschblauer alter UAZ-Geländewagen steht. „Wir haben beschlossen, dass du vorne sitzt – da gibt es einen Sicherheitsgurt“, sagt der Fahrer und Mitsegler, der mir kurz nach dem Start erklären wird, warum er trotz allem weiterhin Trump wählt.

Das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken bedeutet, dass ich in der nächsten Stunde sehr viel über den UAZ erfahre. Dass man mit dem Hebel da zwischen Zweirad- und Allradantrieb wechseln kann. Dass es viel Kraft kostet, zu schalten und zu lenken. Dass außerhalb der Stadt plötzlich andere Fahrer winken und lichthupen, wenn man in so einem alten Schätzchen unterwegs ist. Dass das Auto zwar viel ächzt und andere Geräusche macht, die aber alle nichts bedeuten. Auf dem Rücksitz spielt K, eine junge Russin und Nummer vier unserer heutigen Segelei, mit ihrem Handy.

Als wir am Ziel nördlich von Moskau ankommen, noch weiter außerhalb der Stadt als Ikea und Obi, muss es flott gehen. Die Sonne steht schon tief, der Wind ist so stark, dass er uns immer wieder zurück Richtung Anlegestelle drückt und uns schließlich ein kleines Motorboot rausschleppt. Skipper M. geht das erkennbar an die Ehre, weshalb wir danach erst mal betont souverän in den Sonnenuntergang schippern. Es ist, das sagen auch die Mitsegler, schon verdammt windig heute – viele Kommandos, schnelles Wechseln von einer Seite des Boots zur anderen und zurück. Ich denke mir: Solange K. noch Handyfotos auf Instagram postet, wird es schon so ernst nicht sein. Und es mangelt ja auch nicht an Motiven: Das Wasser, in dem sich die Sonne spiegelt. Der Himmel, ganz frei vom Moskauer Herbstsmog. Die Birken am Ufer, in Gelb und Orange.

Auf dem Rückweg Richtung Ufer wird es dann noch mal ein wenig unentspannt. K. hat das Handy weggepackt und sieht käsig aus, M. holt sich bei einem Manöver nasse Füße, und wir alle lehnen uns zur selben Seite raus, so weit wir nur können. Dafür ist das Anlegemanöver dann perfekt, Ehre wiederhergestellt. In der Abenddämmerung fährt der UAZ zurück Richtung Zentrum, aus dem Bluetooth-Lautsprecher kommen abwechselnd Abba und amerikanische Powerballaden. Waterloo. Carry on My Wayward Son. Does Your Mother Know. K. sitzt jetzt vorne, M. und ich haben auf der Rückbank russische Militärhelme aufgesetzt. Safety first. Durch die Dachplane zieht Kälte ins Auto, aber immer noch wärmer als auf dem Wasser vorhin. „Nächstes Wochenende gehen wir auf den Schießstand,“ sagt K. „Komm doch mit.“