Russball, Folge 67: Fußballspielen auf alten Bierbechern

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„Guck mal, der Nachtkönig sitzt auf dem Thron und guckt Fußball“, schreibt eine Moskauer Bekannte. Sie war gerade Lokomotive beim Spiel gegen den FK Jenissei anfeuern – erfolgreich, Loko hat 2:1 gewonnen. Und das Foto, das sie da schickt – joah, ganz nett. Haben die halt so nen Typen aus Game of Thrones auf der Leinwand gezeigt, mit einem rot-grünen Fanschal.

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„Es gibt noch mehr Bilder“, schreibt sie weiter, ich soll dringend mal bei Lokomotive auf Instagram gucken. Da sieht das Ganze dann doch etwas beeindruckender aus: Der Typ war nicht nur eingeblendet, sondern wirklich dort. Sie haben ihm ein Stück Tribüne freigeräumt, schön schneeweiß abgedeckt, so einen Thron hingestellt und von da hat er dann das Spiel verfolgt. Alles ein subtiler kleiner Hinweis, dass man demnächst das Finale von Game of Thrones im Stadion gucken kann. Und vielleicht auch, um die Jungs von Jenissei ein bisschen aus dem Konzept zu bringen.

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⚽ Tom Tomsk klingt wie ein Mensch, als hieße da jemand Peter Petersson. Tatsächlich aber ist es ein Fußballclub, der nach einem Fluss und der daran gelegenen Stadt heißt – als spiele da Düssel Düsseldorf oder Donau Donaueschingen. Aber der Name steht nicht nur für Fluss und Stadt, sondern auch für ein Problem, das in Russlands Ligafußball weit verbreitet ist: die Angst vor dem Aufstieg, aus Geldgründen. Im Detail ist hier bei Futbolgrad gut erklärt, warum der aktuelle Zweite der zweithöchsten Liga nicht in die höchste Liga aufsteigen will.

Kurz lässt sich die Lage so zusammenfassen: Viele Vereine, die in der Ersten Division spielen (der Name ist etwas irreführend, es handelt sich um Russlands zweite Liga), kämpfen schon genug damit, ihren Alltag finanziert zu kriegen. Aufzusteigen und mit den Teams der Premjer-Liga mitzuhalten, würde noch teurer. Oft haben Clubs, die auf Zweitliganiveau spielen, auch keine reichen Sponsoren, sondern gehören der Stadt, der Region, irgendeinem Teil des Staates. Keine Grundlage für große Sprünge, erst recht nicht rauf in die Premjer-Liga. Championat hat sich unter den Vereinen der Ersten Division umgehört, wer überhaupt an einem Aufstieg interessiert wäre, und kommt zu dem Schluss: Kann sein, dass sich da demnächst in den Playoffs zwei Mannschaften gegenüberstehen, von denen keine gewinnen will.

⚽  Budweiser und Umweltschutz, das gehört bekanntlich zusammen wie Russland und Mülltrennung: Eigentlich gar nicht, aber für die Öffentlichkeitswirkung stellt man dann doch mal ein paar Eimer in unterschiedlichen Farben auf. Oder schreddert eben 50.000 Plastikbecher, die bei der WM im Stadion liegengeblieben sind, und macht daraus einen kompletten neuen Fußballplatz.

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Wie fühlt es sich an, auf sowas zu stehen oder gar zu spielen? Marco Materazzi hat es ausprobiert und zwei Dinge gesagt: Erstens „Das ist ein ausgezeichneter Platz, auch wenn er ungewöhnlich ist,“ und zweitens, was die Sache vielleicht ein wenig relativiert, „Fußball kann man überall spielen, sogar auf Asphalt.“ Budweiser gibt unterdessen eine Pressemitteilung raus, in der fünfmal Varianten von „Recycling“ vorkommen und nennt das Plastikbecherfeld die „ReCup Arena“. Ich verkneife mir derzeit, auszurechnen, wieviel Prozent (oder Promille?) der bei der WM verwendeten Plastikbecher diese 50.000 Stück wohl ausmachen.

⚽ Entstanden ist das Plastikbecherfeld nicht weit vom Fischt-Stadion in Sotschi, also reden wir doch kurz mal darüber, was für ein Verein dort seine Heimspiele austrägt: Klar, der PFC Sotschi, soweit einleuchtend. Der allerdings wurde erst im Juni 2018 gegründet, oder vielmehr: umgewidmet. Das ganze war ein halbwegs komplexer Prozess, bei dem der Traditionsverein Dynamo St. Petersburg in FK Sotschi umbenannt wurde und von der Ostsee ans Schwarze Meer umzog. Alte Spieler, neues Trikot, fertig. Ergebnis: Es spielt jetzt immerhin ein Zweitligaclub in dem schicken WM-Stadion. Soweit Teil eins der Geschichte, das war vor knapp einem Jahr.

Teil zwei spielt sich derzeit ab. Der PFC Sotschi spielt ganz gut und hat sogar Aufstiegschancen, obwohl zu den Spielen kaum jemand kommt. Aber nach dem Manöver „Bestehender Club wird umgetauft und zieht in eine 2000 Kilometer entfernte Stadt“ war ja nun ein Vereinsname mit viel Tradition vakant. Das kann so nicht bleiben, weshalb das bisschen, was in Petersburg noch von Dynamo übrig war (die Jugendmannschaft?) nun mit dem FK LAS Luga zusammengeht. Luga liegt im Petersburger Umland, das bisherige Highlight in der Vereinsgeschichte war laut VKontakte-Seite der dritte Platz unter allen Männerteams im Bezirk Leningrad im Jahr 2015. Mal sehen, ob der neue, alte Name noch höhere Höhenflüge möglich macht.

⚽ Wir müssen mal über Saransk reden. Ihr erinnert euch: Die eher kleine Stadt, bei der man nicht so genau wusste, warum sie zu den WM-Gastgebern gehören durfte. Seitdem spielt dort der FK Mordowija, derzeit im Mittelfeld der Ersten Division, in einem schicken WM-Stadion. Kleiner Haken: Mordowija hatte in der Spielzeit 2017/18 im Schnitt nicht mal ein Prozent der Zuschauer, die in das Stadion passen. Zu Beginn der aktuellen Saison sah das besser aus, statt wie zuvor ein paar tausend kamen nach Vereinsangaben um die 20.000.

Dann kamen der Herbst, der Winter, immer weniger Leute. Und nun, im Frühling, war ein Reporter von Championat dort und fand beim Spiel gegen Wladiwostok ein nahezu leeres Stadion vor. Hier, wie war das mit 20.000 Zuschauern? Naja, sagt der Mann an der Ticketkasse, damals haben sie halt die Eintrittskarten kostenlos verteilt. „Der Klub stellt Zuschauerrekorde auf, indem er nicht nur Arbeiter, sondern auch Studenten und Schüler hierherbringen lässt“, hatte es ein Saransker schon im Oktober auf den Punkt gebracht. Klar, dass es andere Vereine ärgert, wenn dann Besucherrekorde verkündet werden. Aber damit scheint, zumindest in Saransk, ja nun Schluss zu sein – jedenfalls, wenn man sich das fast menschenleere Stadion ansieht, in dem vor einem Jahr noch Cristiano Ronaldo einen Elfmeter verschoss.

⚽  Ihr erinnert euch an Alexander Kokorin und Pawel Mamajew? Die beiden Fußballer sitzen in Untersuchungshaft, seit sie sich an einem Abend im Oktober mit mehreren Leuten geprügelt haben sollen. Keiner von beiden streitet das ab, es gab öffentliche Entschuldigungen, inzwischen läuft der Prozess. Kokorin hat bei seiner Aussage eingeräumt, einen Mann namens Denis Pak mit einem Stuhl geschlagen zu haben, Mamajew gab zu, einen anderen Mann leicht verletzt zu haben. Soweit dieser Fall. Und dann gab es den hier:

Noch ein Verletzter, noch ein prügelnder Profifußballer, diesmal Ajas Gulijew von Spartak. Die Boulevardzeitung Moskowski Komsomolez textet launing und kaum verholen schadenfroh, da habe ein Amerikaner das Unglück gehabt, zu erfahren, wie rau Moskauer Autofahrer sein können. Nun ja. Opfer und Täter einigten sich später, Gulijew entschuldigte sich und spendete Geld an einen guten Zweck. Glimpflich gelaufen – aber warum nur für ihn und nicht für Kokorin und Mamajew? Vielleicht, weil unter deren Opfern eben Denis Pak ist, ein nicht ganz unwichtiger Mitarbeiter des Industrie- und Handelsministeriums. Oder weil es immer gut ist, wenn man den Leuten was anderes gibt zum Empören als politische Themen, die ihre Empörung wert wären.

⚽  Das Porträt-aller-Porträts von Kokorin hat übrigens Neil Salata drüben bei Russian Football News geschrieben. Ausgedruckt auf Papier wäre es vermutlich länger als Kokorin groß ist. „Despite the growth in his wages since 2012-2013, arguably, the only other visible consistent growth for much of the time was his scandals“, heißt es da unter anderem sehr treffend. Dass er bei seiner ersten Chance, für einen Proficlub zu spielen, alles vor Wut noch vor dem Start wieder hingeschmissen hat, passt auch ins Bild. Das war’s dann aber jetzt auch mal mit Kokorin, jedenfalls für diesen Monat.

⚽ Ach, ich mag ja die Bilder, die bei Twitter unter @RUSNLF gepostet werden, hab ich vielleicht schon mal erwähnt. Die Abkürzung steht für „Russian Non-League Football“ – ein guter Einblick, wie es aussieht, wenn Fußball Breitensport wird, mit weniger prominenten Clubs, aber genau so begeisterten Fans. Und eben mit Plätzen wie diesem hier:

Womit man nicht rechnet: Dass bei solch unterklassigen Spielen ein früherer Nationalspieler antritt. Roman Pawljutschenko hat das dennoch getan. Er war bei Spartak, Lokomotive und sogar ein paar Jahre in England unter Vertrag. Dmitriy Podrubniy hat aufgeschrieben, wie es war, als Pawljutschenko letzten Herbst plötzlich für den FK Snamja spielte, in einem Stadion mit dem traditionell sowjetischen Namen „Awtomobilist“. Eine lesenswerter Ausflug in die Provinz.

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Zum Schluss noch etwas, das zwar nichts mit Fußball, aber doch mit Sport in Russland zu tun hat. Es geht um dieses Wesen hier, eine Mischung aus Bär, Matrjoschka und Stehaufmännchen.

Er ist eines von zwei neuen Maskottchen der russischen Olympiamannschaft, entworfen natürlich vom Studio Art.Lebedev, das alles erledigt, was gerade mal wegdesignt werden muss – in Moskau etwa die Gullydeckel, den Metroplan oder das überraschend interessante Muster für die Sitze im Bus. Als die Premjer-Liga letztes Jahr ein neues Logo wollte, hat das Studio auch ihnen einen Bärendesigndienst erwiesen.

Dass dieser Olympia-Stehaufbär besonders ist, liegt an den Worten, die in dem kleinen Video an ihm vorbeisausen. „Doping“ steht da, „Sanktionen“ und „Skandale“. Ist dem Bären alles egal, er steht wieder auf. Viel deutlicher kann man nicht signalisieren: Eure Vorschriften sind uns egal, oder bestenfalls Futter für einen Bärenwitz. Nicht nur ich hab mich gefragt, ob das wohl ernstgemeint ist, aber die neuen Maskottchen wurden Mitte des Monats vorgestellt, seitdem gab es weder ein Dementi noch eine total meta-mäßige „Da haben wir’s euch aber gezeigt“-Erklärung. Der Doping-ist-kein-Problem-Bär ist also ebenso echt wie sein Co-Maskottchen, eine Katze, die an eine russische Fellmütze mit Ohrenklappen erinnert. Doch, wirklich.



 

5 Jahre in Russland: Was fehlen wird und was nicht

Heute ist er da, der Heimflugtag nach fünf Jahren Leben in Russland. In den letzten Tagen war viel Abschiedsfeiern, Tränenwegwischen und Schwelgen in Erinnerungen. Das wäre noch mal ein ganzes Stück härter gewesen, wenn nicht russischer Braindrain und deutsche Arbeitgeber zuletzt dafür gesorgt hätten, dass viele Freunde Moskau schon verlassen haben, einige sogar nach Berlin.

Und ja, vielleicht habe ich es mir in den letzten Wochen auch ein bisschen leichter gemacht mit dem Abschied, indem ich laut vor mich hingemoppert habe über alles, was hier nervt. Allein: Es drängelt sich halt immer wieder Schönes in den Vordergrund und erinnert daran: Das wirst du so in Berlin nicht mehr haben, nicht mehr erleben können.

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Was mir nicht fehlen wird: Die dreckige Moskauer Luft, durch die jede Erkältung vier Wochen dauert. Die Bürokratie, in der niemand Verantwortung für irgendwas übernehmen mag. Das Verzögern und Schikanieren, wenn man ein wichtiges Dokument braucht und nur Bittsteller sein kann und abwarten. Die maulfaulen, missmutigen Nichtzurückgrüßer. Der fehlende Augenkontakt. Dass die Stadt trotz einiger Umbauten immer noch den Autofahrern gehört und man als Fußgänger sich danach zu richten hat.

Was mir fehlen wird: Die oft nicht mehr ganz jungen Damen, die von der altehrwürdigen Tretjakowgalerie bis zum Heimatmuseum hier alle Museen regieren, streng aber gerecht, und mit viel Fachwissen. Das Gefühl von Triumph, wenn du im Bus mithörst, was jemand neben dir ins Telefon erzählt, und dann merkst: Moment, das war ja Russisch, und ich hab jedes Wort verstanden. Mit Freunden zusammen Musik machen und dabei dorthin kommen, wo nicht jeder hindarf, zum Beispiel im Konservatorium oder in der Erlöserkathedrale. Überhaupt: Die rotgoldene Plüschomanie, vor allem da, wo Kultur stattfindet.

Was mir nicht fehlen wird: Der Rassismus, der oft nicht mal als solcher erkannt wird: „Ich war neulich bei euch in Deutschland, in Freiburg. Schöne Stadt, aber die ganzen Schwarzen!“ Dasselbe, nur für Schwulenfeindlichkeit: „Was, ihr nehmt einen Ballettänzer bei euch auf? Hast du keine Angst, dass der deinen Mann… du weißt schon?“ Militärparaden und Kwaspatriotismus. Kleine Jungs in Tarnfleck und kleine Mädchen in Prinzessinnenpink, die schon vor der Einschulung die gängigen Brust-raus-Schmollmund-Posen für Instagram beigebracht bekommen.

Was mir fehlen wird: Sowjetisches Design und die zeitlose Sachlichkeit, mit der hier Geschäfte benannt werden: Dom Knigi, Haus des Buchs. Mir zwetow, Blumenwelt. Moshostorg, Moshaushand (Moskauer Haushaltswarenhandlung). Dass es für jeden Vornamen (z.B. Katrin) zig Kosenemanevarianten gibt (Katjuscha, Katja, Katjona, Katerinka) und dazu dann noch eine eilige Rufnamenvariante: Kat! Dass es komplett legitim ist, seinen Partner, wenn er denn männlich ist, „Pupsik“ zu nennen.

Was mir nicht fehlen wird: Die Haltung, dass man als Ausländer hier bitte nichts zu kritisieren hat – wem was nichts passt, der kann ja gehen. Die Ratschläge, die einem vom Ömchen bis zum Taxifahrer jeder gibt – vor allem als Frau. Das Gefühl, wenn man sich als Deutsche zu erkennen gibt, der Gegenüber ein zustimmendes Geräusch macht und man nicht weiß: Sagt er als nächstes „Ich hab Rammstein mal live gesehen“ oder doch „Hitler hat auch vieles richtig gemacht“?

Was mir fehlen wird: Die Leute, die einen überraschen mit ihrer Reaktion, wenn man sich als Deutsche zu erkennen gibt: Oh, Peter Zadek! Oh, Friedrich Engels! Oh, Tic Tac Toe! Wobei, das war in der Ukraine. Apropos: Wie viele andere Länder man von Moskau aus entdecken kann: Die Ukraine eben, dann Armenien, wo die Kirchen aussehen wie Burgen und das Alphabet wie ein U neben dem anderen. Georgien, das Land mit der guten Küche. Aserbaidschan, wo man lernt, was ein Schlammvulkan ist. Kirgistan, Usbekistan – und hey, Kasachstan, irgendwas wird das mit uns auch noch mal was.

Was mir nicht fehlen wird: Die Staus, zur Rushhour morgens und abends und dann noch mal mittig dazwischen. Das Desinteresse am Umweltschutz – seien es jetzt wartende Autos mit laufendem Motor, keinerlei Mülltrennung oder die Tatsache, dass ich in fünf Jahren hier nur drei Orte gefunden habe, an denen man alte Batterien entsorgen kann: im Goethe-Institut, bei Ikea und im hippen Museum „Garage.“ Dass es im Winter mal zu kalt ist, mal zu warm, und dazwischen fällt man ständig hin.

Was mir fehlen wird: Die Frau an der Supermarktkasse, die, nachdem ich monatelang mehrfach pro Woche „Nein, danke, ich brauche keine Plastiktüte“ gesagt habe, ihre Kollegin irgendwann anranzt, als die mir wieder eine Tüte aufnötigen will: „Verstehst du denn nicht? Es geht hier um Ö!Ko!Lo!Gie!“ Das Gefühl wie im Studentenwohnheim, wenn die Hälfte deiner Freunde auf demselben Gelände wohnt wie du. Das kollegiale „Kannst du mir das mal einsprechen?“ und „Ich kann dir das auch gern gegenlesen.“ Die Metro, vor allem die Haltestellen Komsomolskaja, Dostojewskaja, Majakowskaja und Nowoslobodskaja. Die Stelle, wo die hellblaue Metrolinie kurz aus dem Untergrund auftaucht, bei Tageslicht über die Moskwa fährt und dann wieder verschwindet.

Was mir fehlen wird: Mit Freunden unter freiem Himmel Plow kochen im Kasan, und dann so lange draußen sitzen, bis auch das letzte Bier getrunken und die letzte Mücke satt ist. Russlands Nicht-Metropolen (also weder Moskau noch St. Petersburg), wo alles etwas langsamer ist, weniger hochglanzig, weniger blinkreklamig. Fernzug fahren und auf Birken gucken. Elektritschka fahren und gucken, was da heute so verkauft wird – Socken? Eis? Kalender? Plötzlich halbwegs Ahnung von Ballett zu haben. Zu wissen, was man beim Fußball zum Anfeuern ruft und was beim Eishockey.

Was mir fehlen wird: Die Gastfreundschaft, die ab dem Moment greift, wo man auch nur einen gemeinsamen Bekannten hat – und dann in kurzer Zeit ausufert, von „hier, ein Apfel aus meinem Garten“ zu „Ich hab mal eben deine restlichen fünf Urlaubstage für dich geplant, morgen früh um 8 hol ich dich ab.“ Die absurden Denkmäler – Ehre dem Kabeljau – die man hier manchmal findet. Das Alte neben dem Neuen. Das Gefühl, wenn man von irgendwo auf Moskau herabguckt, vor allem abends. Das ständige Feuerwerk. Die Beleuchterei.

Ein Stapel Noten

Zwischen allerlei gebrauchten Büchern bin ich neulich im der Secondhand-Ecke von St. Andrew’s, der anglikanischen Kirche hier in Moskau, auf ein kleines Regal voller alter Klaviernoten gestoßen. Kann ich zwar nur vom Blatt summen, nicht spielen, aber darum geht es auch gar nicht: Mitgenommen habe ich einen dicken Stapel wegen des Designs.

Denn da hat jemand – vielleicht eine Klavierlehrerin oder ein Barpianist – über Jahrzehnte hinweg Noten gesammelt. Mehr U als E, gedruckt in Russland oder anderen Ostblock-Ländern, einige auch in der DDR, was man halt so bekommen konnte. Und viele von ihnen sind so typisch für ihre Epoche, so sehenswert in Sachen Gestaltung und Typographie – die mussten mit.

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Ein „Feiertagslied“ aus dem Jahr 1949, bebildert mit den strahlenden Gesichtern der sowjetischen Jugend, natürlich in Rot, unter blauem Himmel und umrankt von Girlanden. Im Lied geht es um Menschen, die auf der Straße feiern, alles ist voller Gesang, „da sind ja Kolja und Nastja, da ist unsere ganze Brigade.“ Nachkriegsoptimismus.

Viele der Lieder sind in Rumänien komponiert oder zumindest dort veröffentlicht worden. „Na sarje“ zum Beispiel, „bei Sonnenaufgang“, in dem eine Werkssirene den hellen neuen Tag verkündet. „Wenn du verstehst, dass du dich verliebt hast“ – das Lied mit dem adrett genähten Herz auf dem Cover ist übrigens ein Mambo (!). „Mondnacht in Bukarest“ – diese schiefen Häuser, die Blautöne und über allem der Mond als das O von notsch, Nacht. Damit keine Hauptstadt unbesungen bleibt auch gleich noch die russische Variante, statt mit Sternen lieber mit Scheinwerferlicht und Feuerwerk: „Moskau, ich habe mich in dich verliebt!“

Und dann die Frau, die mit Pfeil und Bogen so etepetete hantiert, als hielte sie in jeder Hand ein Teetässchen. „Sag mir, was ich tun soll“, heißt das Lied auf Russisch, im rumänischen Original etwas detaillierter: „Sag mir, was ich tun muss, damit du mich ein bisschen magst.“ Fun fact, mit Dank an die Twitter-Übersetzungshelfer: Das Wort „puțin“, das mir im Originaltitel aufgefallen war, bedeutet „ein bisschen“.

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noten herz

noten bukarest bei nacht

noten verliebt in moskau

noten amor

1965, noch unter dem Eindruck von Chruschtschows Tauwetter, ist dann in Moskau dieser Sammelband erschienen, „Amerikanische Lieder für die Jugend“. Was da für ein positives Amerikabild auf dem Einband gezeigt werden durfte: Ein geräumiges Haus im Grünen, davor steht ein ziemlich neues Auto, Menschen haben sich um einen Mann versammelt, der Gitarre spielt, und über allem reitet ein Cowboy.

Die ersten Lieder im Heft wurden so ausgewählt, dass sie zu den sowjetischen Idealen passten (If I Had a Hammer, Down by the Riverside), später wird es dann mit Old MacDonald, Home on the Range und Polly-Wolly-Doodle etwas weniger programmatisch.

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Aus demselben Jahr ist auch dieses Heft mit drei kleinen Singspielen für Kinder. Aufs Cover kam im Jahr vier nach Gagarin natürlich „Zu Gast bei den Sternen“, und natürlich ist das Kind, das den Astronauten spielen darf, ein Junge und die Mädchen sind wieder nur niedliche Sternchen in pastellfarbenen Kleidchen. Trotzdem: Die Illustrationen, mit einem Blumenstrauß für „Tante Luna“ und den schnittigen, roten Raketen – das ist schon ein ziemliches Prachtexemplar seiner Zeit. Vor lauter Stolz gibt es natürlich auch ein Lied, das „Sputnik“ heißt.

Weiterblättern im Notenstapel. „Atlanta“ – ein Foxtrott – wie großartig ist bitte dieses Bild? Der „West-Fox-Trot“, sichtbar aus derselben Epoche, liefert eine Jahreszahl mit: veröffentlicht in Moskau im Jahr 1927. Das nächste Stück – dessen Cover ein wenig an das Rodtschenko-Werbeposter für Schnuller erinnert – ist laut Aufschrift sowohl ein Charleston als auch ein Foxtrot namens „Charly-Fox.“ Und apropos Rodtschenko: Diese „Exzentrischen Tänze“ in Schwarzweißrot sind ja auch ziemlich eindeutig von ihm inspiriert.

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noten west

noten charlie

noten ekzentrishc

Ein Notenblatt zum Schluss noch, das mir gar nicht als etwas Besonderes aufgefallen war. Dann war abends H. zu Besuch, der sich sowohl mit Kunstgeschichte als auch mit rusisscher Geschichte auskennt. Wo ich nur „Die Rose von Stambul“ gelesen und einen orientalisch kostümierten Frauenkopf wahrgenommen hatte, sah er ganz andere Dinge: „Oh, das muss vorrevolutionär sein! Schau mal, da hatten noch ganz viele Wörter ein „Ъ“ am Ende und das „I“ ist mal als „і“ und mal als „и“ geschrieben – das haben die ja dann bei der Alphabetreform nach der Revolution abgeschafft. Okay, 6 Rubel, das ist ein ziemlich hoher Preis – andererseits haben die ja auch öfter mal den Rubel abgewertet…“

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Glücklich, wer kluge Freunde hat. Der Rest ist schnell recherchiert: „Die Rose von Stambul“ ist eine Operette von Leo Fall. Sie wurde tatsächlich 1916 uraufgeführt und in der deutschsprachigen Ausgabe sah der Einband des Klavierauszugs so aus. Zum prärevolutionären Fundstück gibt es auch eine postrevolutionäre Aufnahme, gesungen von Rudolf Schock:

Nicht alle Notenblätter aus dem Fundstapel haben in diesem Blogpost Platz. Darum werde ich weitere schöne Exemplare nach und nach hier twittern.

Russball, Folge 46: Dieser Bär steht jetzt für den russischen Fußball

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Fasst man’s denn? Das WM-Stadion in Samara ist nach unendlich vielen Verzögerungen eröffnet worden, nur sechs Wochen vor Turnierbeginn. Ab sofort rechne ich also täglich mit der Fertigstellung des Flughafens in Berlin! Ansonsten habe ich neulich den möglicherweise absurdesten Text meiner jüngeren journalistischen Karriere verfasst, über ein Festival, das hier in Russland parallel zur Weltmeisterschaft stattfindet und bei dem der gemeinen Gurke in all ihren Inkarnationen gehuldigt wird. Was sonst noch los war:

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⚽ Zeit, mit der Hand durch die Sofaritze zu fahren und zu gucken, ob man noch ein bisschen Kleingeld findet. Mal zählen…ach guck, das sind ja genau 1656 Euro und 6 Cent. Wie praktisch, denn dafür kann man rund um die Spielübertragungen der Fußball-Weltmeisterschaft eine Werbesekunde im russischen Fernsehen kaufen. Gemeint sind damit natürlich nur Werbeplätze bei den Sendern Perwy Kanal, Rossija 1 und Match, die die Spiele übertragen. Die Sekunde für rund 1700 Euro, das entspricht einem Minutenpreis von 7,5 Millionen Rubel.

Ist das nun viel oder wenig? Die Redaktion von RBK zählt auf: Im Vergleich zur WM vor vier Jahren in Brasilien ist der Werbepreis konstant, damals verlangten die russischen Sender mit den Übertragungsrechten 7,538 Millionen pro Minute. Womit ich nicht gerechnet hätte, ist, dass dagegen bei der Europameisterschaft 2012 die Werbepreise der russischen Sender deutlich höher lagen. Warum, erklärt ebenfalls RBK: Damals „galt Russland als der Favorit in seiner Gruppe, die Zuschauer (…) erwarteten mindestens ein Überstehen der Gruppenphase, doch dazu kam es nicht.“

⚽ Wie sagte der zehnjährige Besuch aus dem Rheinland diese Woche: „Ihr habt hier echt überall Springbrunnen!“ Und ja, der Anlass war einer mitten im Einkaufszentrum, direkt neben dem Starbucks, aber die Beobachtung stimmt auch für Freiluftmoskau. Sachen abends schön beleuchten und im Sommer Springbrunnen sprudeln lassen, das sind zwei große Stärken der Stadtplaner hier.

Im vergangenen Sommer waren es 594 Brunnen in Moskau, diesmal kommt mindestens noch einer hinzu: Auf dem Gelände rund ums Luschniki-Stadion soll ein sogenannter „trockener Brunnen“ entstehen, also einer, zu dem kein mit Wasser gefülltes Becken gehört. Nur Wasser, das aus dem Boden schießt, in vielen kleinen Strahlen. Hinter der neuen Tretjakowgalerie gibt es sowas hier schon, und wenn im Sommer 30 Grad und mehr sind, ist das einer der kühlsten, angenehmsten Plätze in der Stadt: Einfach ein paar Schritte durch den Brunnen gehen, von den Fontänen links und rechts nassgemacht werden und sich dann zum Trocknen schön in die Sonne setzen. Das können Fußballfans demnächst also auch tun, wenn sie sich vor dem Stadionbesuch ein wenig abkühlen wollen – oder danach ihre Tränen verbergen. Was, ich, am heulen? Alter, das ist bloß Springbrunnenwasser!

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⚽ Interessante Reihe, da bei Sports.ru: Im Blog „Futbol auf Deutsch“ porträtiert Konstantin Andrejew seit einem guten Jahr Nachwuchsfußballer, die außerhalb Russlands leben, aber russischer Abstammung sind und somit möglicherweise mal für die russische Nationalmannschaft spielen könnten. (Der Subtext wird ironisch angedeutet: Wir sind doch hier so großzügig mit russischen Pässen, wenn wir einen ausländischen Spieler sehen, der den Fußball bei uns im Land voranbringen könnte. Und jetzt schaut mal, bei dem Jung hier wäre es so einfach!)

Das sind keine Namen, die ich jemals zuvor gehört hatte, aber die Porträts lesen sich interessant. Maximilan Lebedev zum Beispiel aus dem U17-Kader von Bayern München. Die Brüder Konstantin und Andreas Schiler, die aktuell für den SV Sandhausen in der U19 spielen. Und ganz abgesehen davon, ob es nun für eine Profikarriere reicht, ob die bis zur Nationalelf führt und welche Nationalelf es dann ist – interessant sind auch die Fragen zum Alltag der jungen Männer, von Russisch-Sprachkenntnissen über Familie bis hin zum Lieblingsessen. Lesen lohnt sich!

⚽ Das ist mir letzte Woche komplett durchgegangen: Russlands Premjer-Liga hat ein neues Logo – ein Bärenkopf in den Russlandfarben, mit Augen, die entfernt an den Terminator erinnern. Entworfen vom Studio Art.Lebedev, das hier in Russland schon so einige Großaufträge wegdesignt hat: Der aktuelle Metroplan ist dort entstanden, die Sitzpolster im Bus, selbst Moskaus Gullydeckel. Wer bei der Fußball-WM im Sommer auf dem alten Moskauer Olympiagelände unterwegs ist, orientiert sich an Schildern von Art.Lebedev. Und nun also dieses Logo.

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Wie kommt es an? So mittel. Natürlich kursieren allerlei Photoshop-Witzchen – mit der russischen Version von „Pu der Bär“, mit Elch, mit Mutko. Manchen Leuten ist der Bär zu nah am Russlandklischee, sie frotzeln, da fehlten doch noch Balalaika und Wodkaflasche. Nationalspieler Denis Gluschakow wurde nach seiner Meinung gefragt und rettete sich in ein höfliches „interessant“. Und dann war da noch ein Hinweis auf einen hippen Barbershop in Moskau, und ja: Dessen Logo sieht tatsächlich aus, als könnte es das Vorbild fürs Ligalogo gewesen sein. Trotzdem verstehe ich den Backlash nicht so richtig. Im Vergleich zu dem kleinteiligen, unaufgeräumten bisherigen Logo ist der Bär mit den roten Laseraugen ein echter Fortschritt:

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⚽  „Westi“, die Nachrichtensendung des russischen Staatssenders „Rossija 1“, hat durchgerechnet, was russische Fußballfans so investieren müssen, wenn sie alle drei Vorrundenspiele ihrer Mannschaft sehen wollen, also in Moskau, St. Petersburg und Samara. Das Ganze ist nicht immer akkurat gerechnet und ein wenig schief konzipiert (einerseits fehlen die Kosten für die Anreise nach Moskau, als lebe der typische Fan dort, andererseits werden aber auch in Moskau Hotelkosten mit eingepreist), dennoch ist die Liste im Kern ganz anschaulich: Wenn man davon ausgeht, dass Iwan Musterfan jeweils die billigste Ticketkategorie nimmt, dann kommt er für einen WM-Aufenthalt in Moskau auf 29.000 Rubel, in Petersburg auf auf 19.000 und in Samara auf 17.000 Rubel, dazu kommen noch Fahrtkosten.

Zusammen sind das mehr als zwei Durchschnittsgehälter, und man könnte an dieser Stelle des Berichts einen Schlussstrich ziehen. Aber als Staatsmedium ist man nun mal in der Pflicht, man hat für WM-Begeisterung und Hurrapatriotismus zu sorgen. Weshalb der Bericht von „Westi“ nicht mit dem Fazit endet, das sei ja nun recht viel Geld, selbst wenn man sparsam lebe. Nein, hinten wurden schön noch zwei Sätze drangedengelt: „Aber wenn unsere Mannschaft sich gegen alle Gegener gut schlägt und es über die Gruppenphase hinaus schafft, werden unsere positiven Emotionen diese Kosten ganz klar ausgleichen. Wir sind für unser Team!“

⚽  Über den Jahreswechsel 2017/2018 waren wir oben in Murmansk, es war knackig kalt und eine ganz großartige Reise. Nordlicht gesehen, den Eisbrecher Lenin besichtig, Markus hat für den Weltspiegel einen kleinen Film drüber gemacht. Daran musste ich diese Woche wieder denken, als Zenit St. Petersburg diese Bilder twitterte: Die Arbeiter, die gerade an einem neuen Eisbrecher für die russische Flotte bauen, scheinen allesamt Zenit-Fans zu sein:

⚽  Angeklickt und erst mal enttäuscht gewesen: „Das Tschertschessow-Kreuzworträtsel“ hieß es in der Überschrift und ich freute mich schon, allerlei Fragen zu Russlands Nationaltrainer zu beantworten: „Sieben Buchstaben, beginnt mit D: deutsche Stadt, in der Tschertschessow von 1993 bis 1995 als Spieler aktiv war.“ Aber nein, leider kein Rätsel, aber doch ein langes, tiefgehendes Porträt des Glatzenmanns, der die Russen so aufstellen soll, dass sie es vor heimischem Publikum über die Gruppenphase hinaus schaffen.

Ein bisschen sehr chronologisch ist der Artikel, das bremst ihn manchmal. Aber sonst liest er sich gut und anekdotenreich – einschließlich der Begebenheit, wie Tschertschessow 2001 Torwart beim FC Tirol Insbruck war und der Verein einen neuen Trainer bekam, der den gesundheitlich angeschlagenen Tschertschessow erst mal für ein paar Spiele auf die Bank setzte, bis er auskuriert war und sich vor dem Neuen beweisen konnte. Der hieß übrigens Joachim Löw.

⚽ Kennt ihr eigentlich den „Soviet Art Bot“ bei Twitter? Nein? Solltet ihr aber – nicht nur für Fußballbilder wie dieses hier:

⚽ Das ist mal ne Ansage: „Ohne die Fußball-Weltmeisterschaft gäbe es in Russland derzeit kein Wirtschaftswachstum.“ Gesagt hat das Arkadi Dworkowitsch, und der muss es wissen: Dworkowitsch ist Wirtschaftswissenschaftler und seit 2012 einer von Russlands stellvertretenden Premierministern. Mehr zu seiner außergewöhnlichen Rechnung hier.

⚽ Ein paar Woche ist es her, dass ich mich mit Mascha getroffen habe. Sie schreibt gerade an ihrer Doktorarbeit, liebt das Rumstöbern in Archiven und kann sich für alte Dokumente begeistern. Wir sind rund um die Lomonossow-Universität spazierengegangen und sie hat mir gezeigt: Hier in dem Turm ist mein Wohnheimzimmer, da vorne ist der Haupteingang zum Unigebäude – und da, nicht weit weg, soll die Fanzone gebaut werden. Der zentrale Ort, wo in Moskau all die Fußballfans zusammen feiern können, die keine Karten fürs Stadion bekommen haben.

Mascha und ihre Kommilitonen haben Angst, nicht vor den Fans, sondern vor dem Krach bis spät in die Nacht, mitten in der Prüfungszeit. Wie sie ihren Protest dagegen sichtbar machen, und wie die FIFA, der Uni-Rektor und die Stadt Moskau mit diesem Protest umgehen, habe ich für die Berliner Zeitung aufgeschrieben. Am Tag, nachdem der Artikel im Blatt war, war ich abends mit dem Moskau-Besuch noch mal oben in den Sperlingsbergen, und siehe da: Baustellenlärm, Kipplaster, Bagger, Staubschwaden wehen hoch und verschleiern den Blick aufs Unigebäude. Es sieht nicht gut aus mit den Erfolgschancen für den Studentenprotest.

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⚽ Dass Niko Kovac neuer Bayern-Trainer wird, inspiriert nicht nur deutsche Dichter, es beschäftigt auch die russische Fachpresse. Sowetski Sport kritisiert zum Beispiel, Kovac habe keine Champions-League-Erfahrungen und als Trainer noch keinen einzigen Titel geholt, was er wohl auch im DFB-Pokalfinale am 19. Mai nicht schaffen werde.

Bei Sports.ru gbt es sogar eine umfangreiche Analyse all der Gründe, warum der neue Trainer scheitern muss, unter der Überschrift: „Niko Kovac wird neuer Bayern-Trainer – es scheint, als ob das nicht die beste Idee ist.“ Begründung hier: Kovac sei es gewohnt, seinen Kopf duchsetzen zu können – das werde ihm bei Hoeneß und Rumenigge nicht gelingen. Seine Lieblingsaufstellung bei der Eintracht lasse sich nicht auf die Bayern übertragen, und überhaupt habe Kovac den Job ja nur bekommen, weil Tuchel ihn nicht wollte.

⚽ Die tunesische Nationalmannschaft wird während der WM im Moskauer Vorort Seljatino untergebracht, gerade war der Moskauer Sportminister auf Inspektionstour dort. Ein Reporter von Championat.com ist mitgelaufen und berichtet: ein paar schiefe Kacheln und seltsam verlegte Rohre, Rasen im schlechten Zustand, an der Hotelrezeption gibt’s noch keine tunesische Fahne. Alles Sachen, die sich bis Turnierbeginn noch regeln lassen. Besonders hübsch fand ich die Bemerkung des Reporters, eine „Motivation nach deutscher Art“ sei für die Tunesier leider nicht möglich: Die örtliche Bierbar ist derzeit leider geschlossen.

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Zum Abschluss noch ein Text, der nichts mit Russland zu tun hat, dafür aber mit Fußball, mit Familie, mit einem Fan – und einem der noch sucht, ob es eine Mannschaft gibt, deren Fan er sein möchte. Auf die Gefahr hin, dass euch in den letzten Tagen auch andere Leute diesen Text nahegelegt haben – er verdient es auch, mehrfach empfohlen zu werden: „Papsi, ich bin doch gar kein Fan“. Bis nächste Woche!



 

Ein Fundstück aus dem Moskauer Olympia-Jahr 1980

Neulich habe ich mich abends nach der Arbeit mit Elena getroffen. Wir kannten uns vorher nicht persönlich, nur von Avito, dem russischen eBay. Dort hatte ich gesehen, dass Elena einen großen Stapel alter Fußballbücher zu verkaufen hatte – Nachschlagewerke, Jahrbücher, Vereinschroniken, Stadionführer, sogar den ein oder anderen Roman.

Nach ein bisschen Feilschen einigten wir uns auf 2500 Rubel, also rund 35 Euro – ein guter Preis für die dicke, schwere Büchertüte, die ich nur mit Pausen nach Hause schleppen konnte. Nach dem ersten Sichten glaube ich, dass aus dem Material sicher noch der ein oder andere Blogpost entstehen wird – zum Beispiel aus dem 1962 in Luhansk erschienenen Bändchen „100 Fragen und Antworten zum Fußball“. (Frage Nr. 1: „Darf ein Spieler während eines Fußballspiels fünf bis sechs Meter laufen und dabei den Ball auf dem Kopf balancieren?“)

Das Interessanteste an dem ganzen Paket war aber das Fußballjahrbuch für das Jahr 1980. Elenas Vater, dem die Bücher alle mal gehört haben, hat sich ganz offensichtlich auch für andere Sportarten interessiert, vor allem für Leichtathletik. Da hat er sich bei den Olympischen Spielen in Moskau dann auch direkt mal an zwei Tagen ins Stadion gesetzt und zugeschaut.

Zwei Eintrittskarten und ein Programmheft für die Leichtathletik-Wettkämpfe lagen in dem Fußballbuch, leicht knitterig (auch nachdem ich sie vorsichtig gebügelt habe), aber ansonsten noch gut in Schuss. Okay, ja, oben auf das Programmheft hat irgendwer mal ein paar Schlangenlinien gekritzelt, wahrscheinlich, um einen eingetrockneten Kuli wieder ans Schreiben zu kriegen.

Dafür sind die Eintrittskarten unbemalt und interessant. Schon alleine, wie sie auf unterschiedliche Art das Farbschema aufgreifen, das auf dem Programmheft dann komplett zu sehen ist. Und auch sonst kann man aus so einer Karte einiges rauslesen – ihr müsst nur mit der Maus drübefahren.

Sowjetische Design-Objekte aller Arten, vereinigt euch!

kscheib sowjetunion mode

Bis vor einer Woche habe ich mir eingebildet, mich mit Moskaus Museen auszukennen.

Das Puschkin-Museum, das Garage-Museum, das Museum der Stadt Moskau, die alte Tretjakow-Galerie, die neue Tretjakow-Galerie, das Spielautomatenmuseum, das Multimedia Art Museum, das Museum für Moderne Kunst, das Fotomuseum „Brüder Lumiere“, das Museum für fernöstliche Kunst, das Zoologische Museum, das Darwin-Museum, das Kosmonautenmuseum, das Zentralmuseum der russischen Streitkräfte, das Architekturmuseum, das Museum des Großen Vaterländischen Krieges, das Paschkow-Haus – ich hab sie, so viel Prahlerei muss erlaubt sein, alle gehabt. Einige von ihnen auch mehrfach. Ins Museum gehen ist einfach, auch wenn man die Sprache noch lernt. Museen funktionieren immer gleich – Karte kaufen, rumlaufen, gucken.

Wie mir dabei fast vier Jahre lang das Moskauer Designmuseum durchgegangen ist – keine Ahnung. Mich grämt daran nicht so sehr, einfach ein Museum in Moskau nicht zu kennen – da wird es nicht das einzige sein. Aber so ein tolles, das noch dazu genau mein Ding ist! Wenn ihr mal bitte hier schauen wollt, was zunächst Russland und dann die Sowjetunion so hervorgebracht haben:

kscheib russland becherhalter

Ein Metallhalter, in den man sein Teeglas stellt. So um 1880 entstanden, unglaublich fein ausgearbeitet. Aber wir fangen ja erst an. Zwei Räume weiter, und es geht um russische Handarbeit. Zum Beispiel sowas hier:

kscheib russland design eichhörnchenkleid

So, damit kann ich dann auch endlich den Bergiff „Eichhörnchenkleid“ als Schlagwort für einen Blogpost vergeben – wieder einen Eintrag kürzer, die Bucket-List. Dazu noch die Holzbank im Hintergrund, eines von vielen ausgestellten Möbelstücken, natürlich Handarbeit, natürlich alt. Und wie immer die Frage im Hinterkopf: Gibt es irgendwas, das du mit deinen Händen so gut könntest?

Pappschatullen, schwarz lackiert und dann bemalt, sind russisches Traditionshandwerk – und eine der Kunstformen, die auch nach der Revolution populär blieb. Diese Dose hier ehrt Walentina Tereschkowa, die erste Frau im All und in der Sowjetunion fast so berühmt wie Juri Gagarin.

kscheib sowjetunion Walentina Tereschkowa

Dann, ein Museumszimmer weiter: Porzellan! Weil Hammer und Sichel aus Blumen einfach so viel schöner sind. Und weil doch bestimmt jeder beim Abendbrot vor einem Teller mit Lenins Gesicht und dem Slogan „Wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen“ sitzen möchte.

Mein Lieblingsstück ist aber der eckige Teller mit der Baustelle drauf. Dieser Optimismus, dass hier etwas völlig Neues entsteht, wenn alle mit anpacken – das muss man erst mal auf Geschirr unterbringen. Falls es einer auf dem Flohmarkt sieht: Ich nehme dann auch gerne direkt das ganze Service.

kscheib sowjetunion design mischa

Im Seitenflügel des Gebäudes wird es dann bunter, wir sind jetzt in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Mischa, der Bär, 1980 das Maskottchen der Olympischen Spiele in Moskau, bewacht eine Vitrine mit Spielzeug – und ja, da ist nun wirklich alles an Farbe am Start, was man sich so denken kann.

Was halt damals plötzlich ging, dank Plastik. Hinten links das Krokodil Gena mit seinem großohrigen Freund Tscheburaschka, das vorne in der Mitte könnte die sowjetische Version von Karlsson vom Dach sein. Und natürlich ein Astronaut, Verzeihung: Kosmonaut.

kscheib sowjetunion design spielzeug

Weitere Erkenntnis: Wenn das Design stimmt, können sogar Haushaltsgeräte gut aussehen. Das türkise Ding in der Mitte mag ein Staubsauger sein, aber zur entfernten Verwandschaft gehört ganz klar ein großes altes Auto, so richtig schön mit Haifischflossen.

kscheib sowjetunion design haushalt

Was noch? Modekataloge, aus denen man sich allerlei bestellen konnte. In den Zeiten vor Layoutprogrammen und Photoshop bedeutete kreatives Marketing offenbar auch schon mal, dass römische Statuen für die neue Winterkollektion ihren Kopf hinhalten mussten.

kscheib sowjetunion design wäsche

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kscheib sowjetunion design mäntel

kscheib sowjetunion design jacken

Zum Schluss noch ein Design-Exponat mit Deutschlandbezug. Die Zeitschrift heißt, nerdiger geht es kaum, „Technische Ästhetik“ und befasst sich in dieser Ausgabe mit „Der Rolle des industriellen Designs bei der erfolgreichen Ausführung der komplexen, sozial relevanten Aufgaben bei der Gestaltung der materiellen Umgebung“ – und all das dann im Zusammenspiel zwischen UdSSR und DDR, wie das Cover ja zeigt.

kscheib sowjetunion design ddr

Das Moskauer Design-Museum hat seltsamerweise keine Adresse oder Wegbeschreibung auf seiner Website, aber es liegt an der Ulitsa Delegatskaja 3. Der Б-Bus hält fast unmittelbar vor der Tür.

Russball, Folge 25: So sieht er also aus, der russische WM-Freiwillige

Russball kscheib Suus Agnes 2 signed

Worüber man so spricht, wenn man sich mit Freunden zum Pelmeni-Kochen trifft: Ist das jetzt toll, ein Konzert im Staatlichen Kremlpalast zu sehen, oder nicht? Geschichtlich interessanter Ort – ein Plus. Plätze verdammt weit weg von der Bühne – ein Minus. Und wie stehen wir eigentlich zu dem Gebäude selbst, das da nach dem Krieg als Klotz aus Beton und Glas zwischen die ganzen historisch-schönen Kirchen auf dem Kremlgelände gesetzt wurde?

Am Freitag könnt ihr euch selber ein Bild machen. Dann findet in dem Palast zwar kein Konzert statt, dafür aber die Auslosung der WM-Gruppen. Schließlich sind es nicht mal mehr 200 Tage bis zum Anpfiff des Eröffnungsspiels.

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⚽ Zum Start darum heute ein Video. RIA Novosti hat es vor einigen Jahren veröffentlicht, als der Staatliche Kremlpalast 50 Jahre alt wurde. Als repräsentativen Ort für die Parteitage der KPdSU hatte Chruschtschow ihn damals bauen lassen. Und wenn die Kommunisten gerade nicht tagten, fanden schon damals Ballettaufführungen oder Konzerte in dem Gebäude statt.

Inzwischen sind viele Pop-Größen dort aufgetreten – Christina Aguilera, Joe Cocker, Leonard Cohen – selbst Modern Talking. Im Februar kommen Kraftwerk, und das passt dann vielleicht ja sogar ganz gut zu diesem Fremdkörper, für den selbst RIA als staatliche Nachrichtenagentur keine allzu netten Worte übrig hatte: „Ein Stück Architektur, von Offiziellen in Auftrag gegeben, für das uns unsere Nachkommen wohl kaum danken werden.“

⚽ Dass die WM-Auslosung ansteht, führt übrigens auch dazu, dass viele Medien in den Tagen davor ihre grundsätzlichen Analysen veröffentlichen: Schafft es Russland über die Gruppenphase hinaus, auch wenn der Gastgeber laut FIFA-Rangliste die schwächste Mannschaft des Turniers ist? (Eher nicht.) Welche Städte haben die interessantesten Stadien? (Moskau, St. Petersburg und Jekaterinburg.) Wie wird die russische Wirtschaft dastehen, wenn das Turnier beginnt? (Vermutlich besser als heute.) Welche Probleme müssen die Organisatoren in den Griff bekommen? (Rassismus, Hooligans, Terrorgefahr.) Wie reagiert die FIFA auf Berichte über systematisches Doping im russischen Fußball? (So gut wie gar nicht.)

Die Bestandsaufnahme der FIFA klingt naturgemäß sehr viel optimistischer. Gianni Infantino hat sich extra vor der Auslosung interviewen lassen und verspricht: Partystimmung, gute Orga, moderne Stadien, außerdem strenges Vorgehen gegen Doping und Diskriminierung. Selbst der Videobeweis hat es ins Promo-Video geschafft – dabei hat der beim Confed-Cup, dem WM-Probelauf, ja oft gehakt.

So oder so: Der 1. Dezember ist ein guter Anlass, um sich einen Überblick zu verschaffen, wo Russland ein gutes halbes Jahr vor der Weltmeisterschaft steht. Zeit dafür wird sogar während der Auslosung am Freitag sein: Das Ganze soll zwar eine Stunde dauern, von 16 Uhr bis 17 Uhr deutscher Zeit. Das eigentliche Losverfahren, wer mit wem in einer Gruppe landet, dauert laut Plan aber nur eine gute halbe Stunde. Der Rest sind Reden, Interviews, Musik – da lohnt es sich, wenn man ein bisschen Lesefutter gebookmarkt hat.

⚽  Ratko Mladic wird wegen seiner Kriegsverbrechen im früheren Jugoslawien den Rest seines Lebens im Gefängnis verbringen – das ist nach dem Urteil aus der vergangenen Woche klar. Das Massaker von Srebrenica mit rund 8000 Todesopfern ist der bekannteste, aber bei weitem nicht der einzige Fall, wegen dem Mladic vor Gericht stand.

Am Tag nach der Urteilsverkündung spielte Zenit St. Petersburg in der Europa League gegen Vardar Skopje, und einige Zenit-Fans waren sich nicht zu fein, ein Banner mit der Aufschrift „Ratko Mladich, ein serbischer Held“ im Stadion aufzuhängen. Unterstützung für einen Mann, der tausende Menschenleben auf dem Gewissen hat. Mehr zu den Verbindungen zwischen serbischen und russischen Neonazis im Fußball kann man hier nachlesen. Die UEFA ermittelt nun wegen Rassismus – gut möglich, dass Zenit sein nächstes Spiel im leeren Stadion bestreiten muss.

⚽ Wo wir gerade beim Thema Rassismus sind: Zeit Online hat einen interessanten Text darüber, wie russische Neonazis ihre deutschen Gesinnungsgenossen in verschiedenen Kampfsportarten trainieren. Lesenswert vor allem, wenn man bedenkt, dass sich Neonazi-Szene und Hooligan-Szene ja durchaus überlappen.

⚽ Eine große Ladung Sowjet-Nostalgie, dafür keine Spur von Maskottchen oder Matrjoschkas, auch der Pokal steht nur ganz klein unten in der Ecke: Gestern hat das russische Organisationskomitee das offizielle Plakat der Fußball-Weltmeisterschaft vorgestellt und es ist, wenn ihr mich fragt, richtig gut gelungen. Retro, lässig, einprägsam und ein Tribut an den legendären sowjetischen Torwart Lew Jaschin. Ich würd’s mir aufhängen.

Foto: FIFA
Foto: FIFA

⚽ Was auch zur WM-Vorbereitung gehört: Die Ausbildung der ganzen Freiwilligen. Viele von ihnen sind Studenten, an den Unis in den Austragungsorten wurde mit viel Aufwand um Helfer geworben. Und auch dort, wo keine Spiele stattfinden, sind während der Weltmeisterschaft Freiwillige im Einsatz. 120 von ihnen werden zum Beispiel gerade in Krasnodar ausgebildet. Dort, ein paar Stunden entfernt von Sotschi, sollen einige Nationalmannschaften während des Turniers ihre Trainingsanlagen haben.

Wie diese Ausbildung der Helfer aussieht, kann man im Moment ganz gut bei Instagram verfolgen. So ganz erlaubt ist das vermutlich nicht, trotzdem posten immer wieder Teilnehmer ein paar Fotos aus ihren Schulungen. So wissen wir dank Tatjana aus Samara nun also auch, wie er so aussieht, der typische Волонтёр (Wolontjor): Lächelnd, natürlich, den Ausweis an einem Band um den Hals. In der einen Hand eine Landkarte, am anderen Handgelenk eine Uhr, damit er auch pünktlich ist. Dann noch das klingelnde Handy in der Hosentasche, den FIFA-Schriftzug auf dem Bauch, und auf der Brust irgendetwas, das der Ausbilder mit „Anti-Stress“ beschriftet hat.

То чувство, когда ты в волонтёрах и рассказывают тебе, а не ты кому-то пытаешься донести нужную информацию 😅 Алексей Мокеев сегодня провёл активный урок по городской инфраструктуре и достопримечательностям для условной группы "туристов" из Саранска 😊 . Наша команда оказалась в лидерах среди 4-х команд. Оказалось не так легко отгадать место по фотографии или составить полный маршрут от пункта А к пункту Б, по карточкам с адресами улиц) Надо заняться изучением туристического маршрута #ЧМ2018 . До урока нам рассказали много исторических нюансов о Куйбышеве и Самаре! Кто бы мог подумать, что Самара была столицей России до 1991 года 😎 . . . #СамараЖдетЧМ2018 #ЧМ2018Самара #ВолонтерыЧМ2018 #ВолонтерыСамары #ДобровольцыРоссии #МолодежьСамары #Молодежь63

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Ein Bild weiter geblättert, und der Freiwillige auf dem Plakat fängt auch noch an zu sprechen: „вежл(иво)“ und
„доброжел(ательно)“ steht dann in seiner Sprechblase, „höflich und freundlich“. Nur, was er denkt, das hat Tatjana leider nicht fotografiert.

⚽ So emsig wie bei der Ausbildung der WM-Freiwilligen in Samara scheinen sie beim Stadionbau dort übrigens nicht zu sein: Kein Stadion liege mit den Bauarbeiten so weit zurück wie das in Samara, berichtet Sport Express. Einer der Verantwortlichen lässt sich aber zitieren, man werde dennoch auch dort rechtzeitig fertig werden.

Das wirft allerdings die Frage auf: Um welchen Preis? Human Rights Watch hat gerade erst wieder darauf hingewiesen, dass die FIFA zu Menschenrechtsthemen wie der Sicherheit von Stadion-Bauarbeitern zwar gerne Papiere veröffentliche, aber nicht wirklich etwas unternehme. Wenn nun in Samara, wo die Temperaturen aller Wahrscheinlichkeit erst Ende März wieder über den Nullpunkt steigen werden, der Zeitdruck noch steigt, kann das für die Bauarbeiter dort nichts Gutes heißen.

⚽  43 Champions-League-Spiele lang musste sich Igor Akinfejew die Sprüche anhören, die Witze, die Kritik. So lange dauerte die Pechsträhne des ZSKA-Torwarts, während der er in jedem dieser Spiele mindestens ein Tor zuließ.

Dann kam, heute vor einer Woche, das Spiel gegen Benfica Lissabon – ein klares, sauberes 2:0 für die Moskauer. Aufatmen bei Akinfejew – nur die Fans müssen sich jetzt wohl ein paar neue Pointen einfallen lassen.

⚽ Eventuell habe ich an dieser Stelle schon ein- bis zwanzigmal erwähnt, wie gut die Öffentlichkeitsarbeit von Zenit St. Petersburg ist, vor allem mit Blick auf soziale Netzwerke und das Internet überhaupt. Insofern ist das hier nicht überraschend, aber trotzdem saucool: Bei Giphy gibt es jetzt eine eigene, verifizierte Seite mit Zenit-GIFs.

Die Logik dahinter ist simpel und überzeugend: GIFs sind populär, benutzen werden die Fans sie also sowieso. Also, dann doch besser die, die wir ihnen liefern, als andere, auf denen wir vielleicht nicht so gut aussehen. Aktuell schafft Zenit so mit gerade mal 51 hochgeladenen GIFs schon fast 200.000 Abrufe.

via GIPHY

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Zum Schluss noch zwei Folge-Tipps für diejenigen von euch, die bei Twitter sind: Benedikt hat nicht nur geholfen, den beschrifteten WM-Helfer zu entziffern, er spricht auch fließend Russisch und hat Ahnung von Fußball. Und meine früheren Kollegen bei der Moscow Times haben jetzt auch einen eigenen Account für Nachrichten und Service rund um die Fußball-WM – auf Englisch, also auch ohne Russisch-Kenntnisse nützlich.

Ach so, und wenn ihr bei Twitter mitverfolgen wollt, was das russischen Fernsehen aus der WM-Auslosung am Freitag macht: Ich versuche mal, das live zu twittern – zuschauen und mitreden könnt ihr dann hier. Bis dann!



 

Russball, Folge 21: Was ihr bei der Fußball-WM um den Hals hängen habt

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Diese Russball-Folge muss am Anfang kurz mal Dänball sein. Wir waren eine wunderbare Woche lang auf Fanø, vier Große, zwei Kleine – oder anders gesagt, zwei Schalker und vier mehr oder weniger langjährige BVB-Fans. Was tut man nicht alles, um dem Patenkind und seinem Bruder vorzuleben, dass es noch andere Optionen gibt: „Stimmt, das ist cool, dass da jemand einen Drachen steigen lässt, der aussieht wie die BVB-Biene. Aber hast du dir mal den restlichen Himmel angeguckt? Alles blau und weiß!“

Auf der Insel gibt es auch eine Schule, flankiert von einer Bücherei, allerlei Kletter- und Hüpfmöglichkeiten und einer Sportanlage. Nicht nur für Schüler, sondern offen für alle. Beeindruckt hat mich dort der Aushang am Fußballfeld, der vor allem im Herbst und Winter nützlich ist: Schicke eine SMS an diese Nummer, und die Beleuchtung wird für eine Stunde eingeschaltet.

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Sehr einfach, sehr schlau – jetzt wüsste ich nur noch gerne, ob das automatisiert ist oder am anderen Ende ein Mensch sitzt, der einen Lichtschalter drücken muss. So oder so: Falls ihr Fußball spielenden Kindern eine Stunde Strom organisieren oder einfach als Kunstprojekt mitten in der Nacht einen dänischen Bolzplatz beleuchten wollt: Die Ländervorwahl ist +45, der Rest steht auf dem Zettel.

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⚽ Sports Illustrated hat einen Auszug aus dem Buch „Under the Lights and In the Dark: Untold Stories of Women’s Soccer“ veröffentlicht. Es geht um die junge amerikanische Fußballerin Danielle Foxhoven, die 2012 für Energija Woronesch gespielt hat – eine gruselige Erfahrung. Kurzentschlossen hatte sie dem Club zugesagt, nachdem ihr Job bei einem US-Verein weggebrochen war. Der Artikel beginnt mit einer krassen Szene, in der ihr russischer Trainer sie ins Gesicht schlägt, weil sie sich auf den kalten Boden gesetzt hat. Es folgen Sexismus, Beschimpfungen, als Vitamine getarntes Doping.

Man kann das kaum lesen, ohne sich zu fragen, wie leidensfähig man als Profisportlerin eigentlich sein muss – und wie naiv man sein kann: Tabletten einfach schlucken, unerklärte Spritzen einfach akzeptieren. Wer über den Buchauszug hinaus weiterlesen will: Danielle Foxhoven hat über ihre Zeit in Russland gebloggt. Hier etwa über den traurigen Entschluss, mit dem Russischlernen aufzuhören: Sonst, so die Logik, würde sie noch mehr von den Seitenhieben ihrer Mitspielerinnen verstehen.

⚽ Dass Moskaus renoviertes Luschniki-Stadion mit einem Freundschaftsspiel gegen Argentinien wiedereröffnet werden soll, ist ja schon ein paar Tage bekannt. Neu sind aber die Infos, die RBK zu den Kosten für dieses Spiel recherchiert hat. Demnach zahlt Russland rund eine Million Dollar, damit die Argentinier dem Eröffnungsspiel den nötigen fußballerischen Glanz verleihen.

Bemerkenswert sind an dem RBK-Bericht zwei Details. Zum einen zitiert er einen Experten mit den Worten, Argentinien verlange normalerweise eher zwei Millionen pro Spiel. Der Russland-Rabatt entstehe dadurch, dass aktuell „alle Nationalmannschaften froh darüber sind, im Land der nächsten Weltmeisterschaft zu trainieren.“ Derselbe Experte veranschlagt dann auch noch schnell, welcher Anteil der Millionensumme dafür fällig wird, dass Lionel Messi mit anreist: zwischen 35 und 50 Prozent. So fühlt es sich also an, argentinischer Nationalspieler, aber nicht Messi zu sein: Schau mal, der da drüben ist genau so viel wert wie wir restlichen alle zusammen.

⚽ Neuer Tabellenführer in der Premjer Liga: Lokomotive Moskau hat den bisherigen Spitzenreiter Zenit St. Petersburg sowas von geschlagen – 3:0, und das auswärts. Zwei der Tore hat Jefferson Farfán geschossen, das dritte für Alexei Mirantschuk vorbereitet, das sah dann so aus:

Was heißt das nun für die restliche Saison? Einerseits ist der Verlust der Tabellenspitze noch keine Krise. Zenit war im vergangenen Jahrzehnt viermal russischer Meister, Lokomotives letzte Meisterschaft war 2004. Andererseits, das fasst der Chefredakteur von Russian Football News hier gut zusammen, haben die Moskauer eine deutlich leichtere Rückrunde vor sich. Bei Lokomotive jedenfalls ist der Jubel groß – schließlich bedeutet der Spitzenplatz auch, dass man vor den drei Lokalrivalen ZSKA, Spartak und Dynamo liegt.

⚽ Noch 225 Tage bis zur Fußball-WM, dazu machen hier gerade zwei Zahlen die Runde. Zum einen werden die Kosten für das Turnier höher liegen als bisher geplant: 678 Milliarden Rubel statt 643,5 Milliarden – umgerechnet ist das ein Anstieg von rund 500 Millionen Euro. Warum? Die offizielle Verlautbarung nennt keine Gründe. Aber solche Preissteigerungen sind bei Großereignissen nicht unüblich – und in Russland, wir erinnern uns an den Stadionbau in St. Petersburg, erst recht nicht.

Auch Zahl Nummer zwei liegt höher als bisher erwartet, das dürfte allerdings die meisten WM-Teilnehmer freuen. Die FIFA erhöht das Preisgeld, um das die Mannschaften bei der Weltmeisterschaft konkurrieren. 344 Millionen Euro oder, schön rund, 400 Millionen Dollar sind nun im Topf. Wer schon in der Gruppenphase ausscheidet, nimmt 8 Millionen mit heim, dem Weltmeister winken 38 Millionen. Alle Stufen dazwischen hier zum Nachlesen.

⚽ Falls ihr zur Weltmeisterschaft nach Russland kommen wollt, werdet ihr übrigens das hier um den Hals hängen haben – das neue Design wurde gerade vorgestellt:

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Die Fan-ID ist, wie schon beim Confed-Cup diesen Sommer, der Ausweis, ohne den nichts geht. Nur wer ihn vorzeigen kann, darf ins Stadion – die Eintrittskarte allein reicht da nicht. Auch wer ohne Visum einreisen oder einfach nur kostenlos mit der Metro zum Stadion fahren will, braucht die Fan-ID.

Was mich übrigens interessieren würde: Warum ist die ID das einzige, was zwar zur WM gehört, aber nicht im WM-Design gestaltet ist? Dieses Planschbecken-Stadion, aus dem da der Ball raushüpft, hat nichts mit dem Look des Turniers zu tun. Nicht mal die Schrifttype stimmt, das müsste Duscha (Душа) sein. Beim Confed-Cup war das auch schon so – was es nicht leichter macht, wenn man versucht, den Ort zu finden, wo man seinen Ausweis abholt.

⚽ Maslow, Maslow, warum kommt mir der Name noch mal bekannt vor? Ach ja, die Bedürfnispyramide, damals im SoWi-Unterricht. Erfunden hat sie Abraham Maslow, dessen Namensvetter Denis heute Geschäftsführer beim FK Amkar Perm ist. Und es wäre mir ein akutes Bedürfnis, dass der Mann seine schwulenfeindlichen Statements künftig für sich behält – oder ihm zumindest ordentlich Kritik entgegenschlägt, wenn er sowas hier sagt:

„Schwule im russischen Fußball? Gottseidank bin ich noch keinem begegnet und ich hoffe, das bleibt auch so. (…) In der Bibel steht, dass Gott Adam und Eva schuf, nicht Adam und Adam.“ Bei den Spieler von Perm sei er sich jedenfalls sicher, dass alle „eine traditionelle Orientierung“ haben, behauptet Maslow weiter: „Alle Jungs sind entweder verheiratet oder leben mit ihrer Freundin.“ (Was, die leben unverheiratet zusammen? Was sagt denn da die Bibel?)

Lenta.ru protokolliert Maslows Äußerungen und weist zur darauf hin, dass es in Europa durchaus offen schwule Männer im Fußball gibt: Thomas Hitzlsperger als Profifußballer, den Briten Ryan Atkin als Schiedsrichter. Und ich frage mich, ob man da unten auf die Fan-ID vielleicht nicht nur „Say no to racism“ drucken könnte, sondern auch „Say no to homophobia“. Oder, ganz schlicht, „Don’t be an idiot.“

⚽ Zum Runterkommen eine kleine Nachricht von der Rheinland-Russland-Schiene. Normalerweise ist Konstantin Rausch ja immer der FC-Köln-Spieler, der auch zur russischen Nationalmannschaft gehört. Heute also mal andersrum: Der russische Nationalspieler Konstantin Rausch hat seinen Vertrag beim 1. FC Köln verlängert und bleibt nun bis 2021. Soundtrack zur Entscheidung: Wat och passeet, dat Eine es doch klor: Mer blieven, wo mer sin, schon all die lange Johr.

⚽ Begonnen hat diese Russball-Ausgabe mit einer leidensfähigen Fußballerin, enden soll sie also mit zwei nicht minder unerschütterlichen Nachwuchsmannschaften. Am Samstag sollten die Jugendteams des FK Amkar Perm und des FK Ural gegeneinander antreten – in Perm, also fast schon im asiatischen Teil Russlands. Anfangs war das auch ein ganz normales Spiel. Bis zur 35. Minute.

Nein, das ist kein Nebel. Das ist Schnee.

Viel Schnee.

Verdammt viel Schnee.

Wie sagt man noch mal „Abbrechen wegen Unbespielbarkeit“ auf Russisch? Keine Ahnung, und auch egal. Die 90 Minuten wurden ganz normal runtergespielt, nur der schwarzweiße Ball gegen einen bunten ausgetauscht. Am Ende stand es 5:1 für die Gastgeber; die dann vor lauter Glück noch eine endlose Fotostrecke des Schneematches veröffentlicht haben.

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Während ihr das hier gelesen habt, bin ich auf dem Weg nach Tiflis – das Team von Coda Story, zu dem ich als Social Media Editor gehöre, trifft sich dort zur Redaktionsklausur. Mal sehen, vielleicht erzählt ja jemand am Rande eine interessante Geschichte vom georgischen Fußball. Die lest ihr dann nächsten Mittwoch hier – bis dahin, macht’s gut!



 

Lecker Siebzigerjahre-Design aus der Sowjetunion

Alles fing damit an, dass eine Freundin neue Schuhe wollte. Oder besser gesagt: alte. Sie hatte sie online entdeckt, in einem kleinen Laden in Kiew, der sich auf Vintage-Mode spezialisiert. Ich plante sowieso eine Reise in die Ukraine, sollte also Schuhbotin spielen. Handlungsreisende. Zeitreisende.

Eine Halskette, eine Handtasche, eine Brosche und eine Tolle-Retro-Emaille-Schüssel-die-mal-als Schublade-zu-einem-sowjetischen-Kühlschrank-gehört-hat später, und der kleine Vintage-Laden nicht weit vom Maidan gehört zu meinem Pflichtprogramm bei jeder Kiew-Reise.

Diesmal ist mir beim Stöbern dort ein Stapel Flyer in die Hände gefallen. A5-Format in etwa, Farbdruck, matt. Vorne Bild, hinten Text. „Säfte“ steht untern den Illustrationen, „Kompott“, „Kwas“ oder, auch schon mal, „Heil-diätetische Konditoreiwaren“. Herausgegeben hat sie im Jahr 1975 das Ministerium für Lebensmittelindustrie der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik (vielen Dank allen, die bis zum Ende dieses Begriffs dabei geblieben sind), und das Design ist so Siebziger, so Sowjetunion, so besonders, dass ich den ganzen Stapel mitnehmen musste.

"Pflanzenöle"
„Pflanzenöle“

Sonnenblumenkerne als Zirkelmuster in der Mitte, 23 Blütenblätter, Knallfarben. Was wie ein altes Grünen-Wahlplakat aussieht, bebildert tatsächlich einen ministeriellen Infotext zu Pflanzenölen. Der Text ist weder kurz noch interessant („bekannt sind unter anderem Nussöl, Senföl, Maisöl, Sonnenblumenöl, Rizinusöl, Hanföl, Leinöl, Olivenöl, Baumwollsamenöl, Sojaöl, Kokosöl und andere…“), und man fragt sich schon, warum es der Sowjetunion – oder zumindest ihrer ukrainischen Teilrepublik – so wichtig war, ihre Bürger derart tiefgehend über dieses Thema aufzuklären.

Bei anderen Flyern erschließt sich mir das schon eher. Wer Beerenweine hochjubelt, will dafür sorgen, dass die Bevölkerung richtigen Wein nicht so vermisst. Wer Margarine lobt (und dieses Paket Margarine dann auch noch so zeichnet, als läge es in seinem ganz eigenen Scheinwerferlicht), hofft auf eine geringere Nachfrage nach Butter.

"Obst- und Beerenweine"
„Obst- und Beerenweine“
"Margarine"
„Margarine“

Die Teewerbung, mit dem Blick durchs geschwungene Fenster direkt auf die Plantage, suggeriert: Exotik im eigenen Lande, Genosse! Und der nächste Flyer, mit blauem Suppentopf und Effizienz versprechender Uhr, wirbt für Fertiggerichte: „Maisriegel (in den Geschmacksrichtungen süß, süß mit Zimt, süß mit Vanille, süß mit Zitrone) werden in der Dnjepropetrowsker Fabrik für Fertiggerichte hergestellt und tragen das staatliche Qualitätssiegel.“

"Tee"
„Tee“
"Lebensmittelkonzentrate"
„Lebensmittelkonzentrate“

Eine Vorliebe für Gelb- und Brauntöne haben die Flyer, wenn man sie alle mal nebeneinander legt – gut, das deckt sich mit den Deko-Gewohnheiten der Siebziger. Besonders angetan hat es mir die Werbung für Kompott – im Hintergrund das frische Obst in helleren Farben, im stilisierten Glas dann alles ein bisschen dunkler, wie eingekochtes Obst eben nachdunkelt und an Farbe verliert.

Auch beim Thema Kaffee (Warum wird der überhaupt beworben? War der in der Sowjetunion nicht Mangelware?) dominieren Gelb und Braun, nur Kanne und Tasse leuchten in Sonntagsnachmittagsweiß. Die Texter des Ministeriums informieren uns dazu so zuverlässig dröge, wie das Bild anheimelnd ist: „Kaffee ist ein Durst löschendes Getränk mit tonisierenden Eigenschaften. Er steigert die Leistungsfähigkeit des Organismus. Das Getränk regt das zentrale Nervensystem an, verstärkt die Herztätigkeit und verbessert den Stoffwechsel.“ Dann vielleicht doch besser ein Glas Kwas.

(Die Bilder lassen sich per Klick vergrößern. Und der Vintage-Laden soll auch nicht unverlinkt bleiben: Nika Chick Vintage Corner.)