Der Russland-Alltag in Zahlen

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3 Menschen aus dem Moskauer Bekanntenkreis haben in den letzten Wochen Reisen abgesagt haben, weil das Geld knapp wird.

10 Prozent weniger Gastarbeiter sind 2014 nach Russland gekommen, der Schritt scheint sich nicht mehr zu rechnen.

15,4 Prozent sind Lebensmittel innerhalb des vergangenens Jahre laut offiziellen Daten teuer geworden.

22 Wohnungsgesuche/-angebote wurden im Dezember in einer großen Facebook-Gruppe für Moskauer Expats im Dezember gepostet. Hinzu kommen die Posts, in denen Leute Möbel, Bücher oder Kleidung verkaufen wollen, ehe sie Russland verlassen.

77,7 Prozentpunkte ist der Preis für Buchweizen innerhalb einer Dezember-Woche (16. bis 22.) laut Rosstat gestiegen. Buchweizen ist in der traditionellen russischen Küche ungefähr so wichtig wie Kartoffeln in der deutschen.

79,60 Rubel kostete ein Kilo Graubrot im November.

82,50 Rubel kostete ein Kilo Graubrot im Dezember.

700 Dollar bekam vor kurzem eine Freundin abends in den „Soho Rooms“ für eine Nacht geboten. Als sie absagte, wurde das Gebot auf „700 Euro, plus Kokain“ erhöht. Ihre Reaktion beim Erzählen: „Und ich hatte eine Strickjacke an. Eine Strickjacke!“

1982 Stunden arbeiten Russen durchschnittlich pro Jahr. Damit liegen sie oberhalb des OECD-Durchschnitts. In Deutschland sind es 1397 Stunden.

50,000 Rubel pro Stück möchte ein Kollege für sein iPad Air 2, 64 GB, das er per Rundmail an alle verkaufen will. Der offizielle Preis im Apple-Onlinestore sind 54,990 Rubel.

15.7 Millionen Menschen in Russland leben derzeit unter der Armutsgrenze. Die Regierung rechnet damit, dass diese Zahl 2015 steigt, vor allem bei Familien mit Kindern.

(Foto: Lifeofpix)

Putin der Woche (I)

putin der woche

Gesehen: Im Büro einer Kollegin.

Begleitung: Ein ganz zauberhaftes Kopftuch und ein Design, das jeder Russe kennt.

Text: „Milch-Schokolade ‚Walodka'“

Subtext: Farben, Schriftzug, Kopftuch – normalerweise gehört dieser Look der Schoko-Marke „Aljonka„. So, wie in Deutschland bei einem bestimmten Lila jeder Kopf „Milka“ ergänzt, weiß in Russland jeder, worauf sich die Parodie hier bezieht. Er ist aber auch ein ganz ein Süßer, der kleine Walodka! (Und die Schokolade natürlich ein russisches Produkt und keinesfalls importiert.)

Oben-Ohne-Punkte: 10/10, denn „oben mit Kopftuch“ verdient einen Ausnahme-Bonus.

Blogstatistik 2014 – ihr sucht was?

recite-eltaqwEs ist kein schlechtes Land, das zwischen Verwirrung und lautem Lachen liegt. Zwischen den Jahren halte ich mich da besonders gerne auf, die Anreise geht schnell und führt mitten durch die WordPress-Statistik. Sie listet auf, was Menschen in Suchmaschinen eingegeben haben und daraufhin in diesem Blog gelandet sind.

Besonders wirr sind die Suchanfragen ganz unten in der Liste. Genau ein Mensch hat genau einmal diese Formulierung eingetippt und wurde daraufhin hierher geschickt. Nicht, dass er dann auch zwingend was Passendes gefunden hätte – aber irgendwas muss sich Google dabei gedacht haben. Da, wo ich den Gedankengang nachvollziehen kann, habe ich den entsprechenden Post verlinkt. Auch wenn man – emper, Ampere – manchmal laut vorlesen muss.

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Und hier die Perlen aus dem Jahr davor: Blogstatistik 2013 – ihr sucht was?

Moskauer Warenkorb, Dezember 2014

kaboompics.com_baglesUnter den bekloppten Ideen des Monats war die, am 30. Dezember noch schnell im Supermarkt ein paar Preise nachzusehen, schon sehr weit vorne. Schließlich ist hier in Russland Silvester und nicht Weihnachten das wichtige Fest zum Jahresende, meist mit großem, selbst gekochtem Essen im Familienkreis.

11,5 Millionen Menschen lebten bei der letzten offiziellen Zählung in Moskau; sie und alle, die seitdem hinzugekommen sind, waren gleichzeitig mit mir im Supermarkt, plus bereits angereister Gäste. Und einer von denen war sogar so nett, den halbvollen Einkaufswagen leer zu machen und wegzuräumen, als ich ihn kurz aus dem Auge gelassen habe, um was aus dem Regal zu nehmen. Danke dafür.

Auffällig sind bei der Preisentwicklung diesmal zwei Dinge. Zum einen, dass das Sortiment in unserem großen Supermarkt immer kleiner wird. Parmesan gibt es jetzt endgültig nicht mehr, rote Paprika waren auch aus, Brie nur noch ein teurer Rest aus der Schweiz. Das heißt nicht, das man das hier in Moskau überhaupt nicht mehr bekäme – aber man muss eben die Läden abtingeln oder in den Luxus-Markt gehen und entsprechend viel bezahlen. Das macht den Russen den Alltag schwer und mir das Vergleichen von Monat zu Monat.

Das andere ist die Sache mit dem Brot. Brot ist, wie eine Tausendermarke beim DAX, psychologisch wichtig, auch wenn die Formulierung abgenudelt ist. Brot ist ein Grundnahrungsmittel, Brot gehört zum Tagesablauf, bei manchen Leuten zu zwei von drei Mahlzeiten. Die russischen Behörden geben sich darum große Mühe, die Brotpreise stabil zu halten (mehr dazu hier und hier). Trotzdem sind diesen Monat die Brotpreise im Warenkorb gestiegen, zum ersten Mal seit einem Vierteljahr.

4,4 Prozent beim Graubrot, 10 Prozent beim Toast. Ob das nun ein Trend wird, muss sich zeigen – blickt man aber auf den August, als das Einfuhrverbot für westliche Lebensmittel beschlossen wurde, so ist Brot seitdem insgesamt 7,8 Prozent (Graubrot) bzw. 13,5 Prozent (Toast) teurer geworden.

Und hier die ganze Übersicht:

Supermarktpreise:

Möhren für 69 Rubel/Kilo (November: 34,90)
Tomaten für 165 Rubel/Kilo (November: 99,00)
Weißkohl für 39 Rubel/Kilo (November: 21,00)
Äpfel für 94 Rubel/Kilo (November: 44,90)
Birnen für 269 Rubel/Kilo (November: 65,00)

Milch (2,5%) für 57 Rubel/Liter (November: 63,44)
Butter für 36,11 Rubel/100g (November: 27,22)
Brie für 329 Rubel/100g (November: 111,20)

Hähnchenbrust für 429 Rubel/Kilo (November: 179,00)
Schweinekotelett für 319 für Rubel/Kilo (November: 369,00)

Onlinehändlerpreise

Kartoffeln für 32,00 Rubel/Kilo (November: 29,00)
Zwiebeln für 33,00 Rubel/Kilo (November: 27,00)
Gurken für 299,00 Rubel/Kilo (November: 207,00)
Zucchini für 255,00 Rubel/Kilo (November: 153,00)
Auberginen für 519,00 Rubel/Kilo (November: 199,00)
Rote Bete für 22,50 Rubel/Kilo (November: 21,00)
Eisbergsalat für 148,00 Rubel/Stück (November: 210,00)
Kohlrabi für 265,00 Rubel/Kilo (November: 215,00)

Zitronen für 123,00 Rubel/Kilo (November: 98,00)
Papaya für 610,00 Rubel/Kilo (November: 455,00)
Mango für 315,00 Rubel/Kilo (November: 315,00)
Bananen für 99,50 Rubel/Kilo (November: 59,90)
Orangen für 94,00 Rubel/Kilo (November: 72,00)
Grapefruit für 97,00 Rubel/Kilo (November: 78,00)
Kiwi für 154,00 Rubel/Kilo (November: 115,00)

Milch für 58,13 Rubel/Liter (November: 66,74)
Butter für 52,22 Rubel/100 g (November: 50,39)

Graubrot, geschnitten, für 82,50 Rubel/Kilo (November: 79,06)
Toastbrot für 90,60 Rubel/Kilo (November: 82,40)

Rinderhack für 398,00 Rubel/Kilo (November: 398,00)
Ganzes Hähnchen 158,00 für Rubel/Kilo (November: 119,00)
Durchwachsener Speck für 1010,00 Rubel/Kilo (November: 747,50)

Kabeljau (TK) für 502,00 Rubel/Kilo (November: 251,00)
Lachssteak (TK) für 640,00 Rubel/Kilo (November: 640,00)

Was heißt das zusammengerechnet? Der Supermarkteinkauf ist um 101,8 Prozent teurer geworden, was zum größten Teil an den Birnen lag (313,8 Prozent teurer als im November). Der Online-Einkauf kostet 28,9 Prozent mehr, hier sind die Preistreiber Auberginen, Kabeljau, Zucchini und Bananen. Mal sehen, ob das Brot im Januar ein größerer Faktor wird.

(DAS KLEINGEDRUCKTE: DER WARENKORB IST NICHT REPRÄSENTATIV. AUSSERDEM GIBT ES IN UNSEREM SUPERMARKT JETZT NICHT MAL MEHR GERIEBENEN PARMESAN UND AKTUELL AUCH KEINE ROTE PAPRIKA. BEIDE SIND ALSO AUS DER WERTUNG RAUSGEFLOGEN.)

(Foto: Kaboompics)

2014 – das Jahr in Büchern

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Mehrere Monate in einer Übergangswohnung, während der eigene Lesestoff in Kisten darauf wartet, endlich auch nach Russland zu reisen. Buchläden, die mit internationalen Titeln eher mittelmäßig sortiert sind. Potschta Rossii, eine direkte Abkürzung in den Päckchen-Orkus.

Es gibt viele Gründe, warum die Lesemischung 2014 ein bisschen bunter war als sonst, nach dem Prinzip: Gelesen wird, was da ist. Auch viele Leihgaben waren dabei – nur ein Teil von dem, was unten steht, ist also auch oben auf dem Foto zu sehen.

Zeit zum Lesen war dafür viel da. Wie das halt so ist, wenn die Zahl der Freunde in Reichweite plötzlich wieder einstellig ist, draußen ständig Schnee liegt und das Pendeln zur Arbeit mindestens 60 Minuten dauert, eine Strecke.

Was bleibt, sind ein paar Trends: Die wiederentdeckte Liebe zu Christopher Isherwood. Die drei „Lucifer Box“-Bücher von Mark Gatiss, so großartig überzeichnet und liebevoll trashig. Zum ersten Mal seit ewig wieder Kurzgeschichten lesen, von Hilary Mantel, gefolgt vom Vorsatz, das wieder öfter zu tun. Stephen Frys neuen Autobiographie-Band ganz okay finden, aber zwei andere Bücher von ihm deutlich besser. Ilf und Petrow als schmerzfreier Einstieg in die russische Literatur. Zum zweiten Jahr in Folge ein richtig gelungener „Inspektor Rebus“, wobei der Dienstgrad nicht mehr stimmt. Hier also die komplette Liste:

“Crap Dates: Disastrous Encounters From Single Life” von Rhodri Marsden.
crap datesGelesen für eine Kolumne in der WAZ. Das Format „Komm, wir dengeln aus Tweets ein Buch zusammen“ ist ja bekannt, das hier ist trotzdem originell und ein Grinsen wert. Muss man aber nicht kaufen, es reicht auch, @Rhodri Marsden bei Twitter zu folgen.
 

“The Guernsey Literary and Potato Peel Pie Society” von Mary Ann Shaffer/Annie Barrows.
guernsey potao peelEines dieser Bücher, wo bei Titel und Design komplett klar ist, dass es an Frauen vermarktet werden soll. War dann aber doch ganz lesenswert und hat mich besonders interessiert, weil es im Zweiten Weltkrieg auf Guernsey spielt, unter deutscher Besatzung. Im echten Leben gehörte damals mehrere Jahre lang mein Opa zu diesen Besatzern, der diese durchweg ruhige Zeit immer als „wir haben da die Tomaten gehütet“ beschrieben hat. Wenn er Heimaturlaub hatte, fuhr er dagegen „in den Krieg“.
 

“Sehnsucht ist ein Notfall” von Sabine Heinrich.
9783462046212Sabine Heinrich finde ich schon so lange so gut, dass ich ein bisschen Sorge hatte, ob das denn auch was wird mit dem Buch und ich sie hinterher bitte immer noch mögen kann. Am Anfang, als sich dann ein Frau-zwischen-zwei-Männern-Plot auftat und sich eine Oma mit potentiell gutem Rat abzeichnete, hatte ich kurz ernsthaft Sorge. Aber dann war das doch gar keine altersweise Rosa-Bäckchen-Oma, und es ging auch nicht um die Suche nach dem einen, wahren Mann als Lebensentwurf. Stattdessen ist das Buch ein Roadmovie, in der Italo-Variante. Schwein gehabt.
 

“Journey To A War” von W.H. Auden/Christopher Isherwood.
Steinbeck und Capa in Russland, Ilf und Petrow in den USA – solche Reisereportagen mit zwei Protagonisten funktionieren im Idealfall gleich doppelt: Man erfährt was über das Reisen und darüber, wie die beiden Reisenden sich miteinander arrangieren. Isherwood_and_Auden_by_Carl_van_Vechten,_1939Hier sind die beiden Reisenden Christopher Isherwood und W.H. Auden, die jahrzehntelang Freunde waren, gelegentlich auch Liebhaber und außerdem als Künstler viel Wert auf die Meinung des anderen gelegt haben. Die zwei, zusammen unterwegs im Zweiten Japanisch-Chinesischen Krieg, mal britisch-kolonial zum Tee beim Botschafter, mal im Dreck und Matsch kurz hinter der Front, das liest sich einfach großartig. Eines der Highlights 2014.
 

“Drei Männer im Schnee” von Erich Kästner.
Die ganze Zeit beim Lesen Heinz Erhardt als Geheimrat Tobler vor Augen gehabt, dabei wurde das Buch gar nicht mit ihm verfilmt. Aber dieser Stil, die Geschichte um den reichen Mann mit goldenem Herzen, der sich als Armer tarnt – alles bekannt, alles oft gesehen. Und trotzdem hat das Buch ein bisschen gewärmt, im schneematschigen März.
 

“My Trade” von Andrew Marr.
Download (1)Schon ein bisschen alt, diese Ausgabe von Andrew Marrs Bestandsaufnahme der britischen Medienlandschaft. Aber mitten in der Zeit des Lebens-aus-dem-Koffer war das immer noch gute Lektüre, anekdotenreich, reflektiert und anschaulich. Und nebenbei auch ganz nützlich, um für den neuen Job das englischsprachige Redaktions-Vokabular wieder aufzupolieren.
 

“There Is No Dog” von Meg Rosoff.
Download (2)Joah. Auf eine Empfehlung hin gelesen, und die Idee, dass Gott ein hormongetriebener Jugendlicher ist, der sich leicht ablenken lässt, würde sicher das ein oder andere an dieser Welt erklären. Trotzdem: Normalerweise hab ich gelesene Bücher ganz gerne hinterher im Regal, das hier konnte ich ohne Trennungsschmerz anschließend wegtauschen.
 

“I Feel Bad About My Neck” von Nora Ephron.
Nora Ephron hat viele Drehbücher geschrieben, darunter das für „Harry and Sally“, was als Ansporn reichte, dieses Buch hier zu ertauschen. Und ja, das ist alles geschickt gemacht, eine gute Mischung zwischen Pointen und den großen Themen des Lebens. Aber „die kann ihr Handwerk“ ist eben nicht dasselbe Gefühl beim Lesen wie „das berührt mich“. Also auch wieder weggetauscht, ebenfalls schmerzfrei.
 

“The Vesuvius Club” von Mark Gatiss.
the vesuvius clubWenn mir ein Künstler liegt, dann hangel ich mich ja ganz gerne durchs Gesamtwerk. Mark Gatiss schreibt Drehbücher für „Sherlock“, spielt darin Mycroft Holmes, und stand dieses Jahr am Donmar Warehouse in „Coriolanus“ auf der Bühne. (Unter Pseudonym hat er außerdem mal Geld als Autor von historisch angehauchter Pornographie verdient – die Amazon-Rezensionen zu lesen, lohnt sich!) Gatiss‘ „Lucifer Box“-Trilogie ist schon ein paar Jahre alt, aber „Wortspielerei-lastiger Roman um einen jungen, attraktiven Lebemann und Spion, der Männer, Frauen und schöne Kleidung liebt, gerne mal beim Dinner jemanden erschießt und um 1900 das Schicksal zweier untoter Wissenschaftler ermittelt und dabei wenn nicht die Welt, dann doch zumindest Italien rettet“ ist ja ein zeitlos schönes Genre. Gekonnter Trash, perfekte Pose. Jeder Bond würde sich über so einen Plot freuen. (Schönste Namen, neben Lucifer Box: Mrs Midsomer Knight, Charlie Jackpot und Miss Bella Pok.)
 

“The Devil in Amber” von Mark Gatiss.
devil in amberAuch „Wortspielerei-lastiger Roman um einen leicht gealterten Lebemann und Spion, der Männer, Frauen und schöne Kleidung liebt, in den Zwanzigern eine Vereinigung amerikanischer und britischer Faschisten unterwandert und schließlich dem Teufel selbst entgegentritt“ ist ein Genre, das Aufmerksamkeit verdient. (Schönste Namen: Percy Flarge, Sal Volatile und Agnes Dei.)
 

“Black Butterfly” von Mark Gatiss.
black butterflyEbenfalls ein schönes Genre: „Wortspielerei-lastiger Roman um einen vor der Pensionierung stehenden Lebemann und Spion, der Männer, Frauen und schöne Kleidung liebt, in den Fünfzigern eine heimtückische Pfadfinder-Vereinigung auffliegen lässt, der auch sein Sohn angehört“. Am besten von den drei Bänden ist aber definitiv der erste. (Schönste Namen: Kingdom Kum und die Anarcho-Criminal Retinue of Nihilists, Incendiarists and Murderers, abgekürzt A.C.R.O.N.I.M.)
 

“All Russians Love Birch Trees” von Olga Grjasnowa.
51rBGlTlY2L._SY344_BO1,204,203,200_Eigentlich gibt es keinen Grund, das Buch auf Englisch zu lesen – Olga Grjasnowa hat es auf Deutsch geschrieben, der Originaltitel heißt „Der Russe ist einer, der Birken liebt.“ Aber gut, im Buchladen gab es das eben auf Englisch, und die Stimmung, das pralle Leben und die tiefe Trauer, sind genau so, wie die „Zeit“ es hier bejubelt.
 

“No Place to Hide” von Glenn Greenwald.
no place to hideDas Buch zum Snowden. Liest sich mit Journalistenblick erst spannend (Kontaktaufnahme, Treffen, Interview, alles hinter dem Rücken der US-Behörden), dann bedrückend (das schiere Ausmaß der Überwachung), zwischendurch lustig (wer glaubt, bei ihm im Büro würden schlimme Präsentationen gehalten, hat die NSA-Powerpoints noch nicht gesehen) und zum Schluss langatmig, wenn Greenwald wieder und wieder die etablierte Medienlandschaft verurteilt, weil sie ihm zu ängstlich, zu langsam und zu regierungsnah ist. Das ist, bei allen guten Argumenten, dann doch eher anstrengend, immer wieder zu lesen. Trotzdem, unterm Strich, gute Lektüre – erst recht, wenn man in Snowdens neuer Heimat lebt.
 

“Thank you, Jeeves” von P.G. Wodehouse.
Ein Klassiker der britischen Literatur! Feinsinniger Humor! Die Briten und ihre Klassengesellschaft, so klug parodiert! Und endlich, endlich hab ich auch mal was von ihm gelesen und… fand’s ganz okay. Doch, ja, nett.
 

“Hammer and Tickle” von Ben Lewis.
Die vielen Pointen mitnehmen, ohne sich vom Ton des Erzählers irritieren zu lassen, das ist der Trick, um dieses Buch gerne zu lesen. Mehr hier.
 

“Juliet, Naked” von Nick Hornby.
juliet nakedEin Buch über Fan-Sein, Besessenheit und das Internet, und natürlich über Musik. Und klar, der Seitenhieb gegen „Let It Be Naked“ und ähnliche Vermarktungstricks ist deutlich. Die Mythenbildung und der Hype um einen Star sind hier genau so schlau beschrieben wie das komplett unspektakuläre Leben als Mitarbeiterin eines Heimatmuseums im möglicherweise langweiligsten Ort Großbritanniens. Und dann begegnen sich diese zwei Welten, und gottseidank lässt Nick Hornby das nicht gutgehen.
 

“Palmen in Castrop-Rauxel” von Dennis Betzholtz/Felix Plötz.
palmen in castrop-rauxelZu den guten Journalisten, die durch die Kündigungswelle bei der WAZ-Mediengruppe (heute Funke) ihre Stelle verloren haben, gehört auch Dennis Betzholtz aus der Dortmunder WR-Redaktion. Er hat daraufhin, parallel zum neuen Job, ein Buchprojekt auf die Beine gestellt und per Crowdfunding finanziert – mehr dazu hier. Der Schreibstil lag mir nur teilweise – ich kann das nicht gut haben, wenn mich ein Sachbuchautor direkt anspricht und mir erklärt, was ich für Schlüsse ziehen soll. Aber für die Porträts und für das Projekt selber – Respekt.
 

“Mir fehlt ein Tag zwischen Sonntag und Montag” von Katrin Bauerfeind.
zwischen sonntag und montagHat eigentlich jeder Journalist so eine Geschichte im Block, anrecherchiert und dann doch nie geschrieben? Meine ist jedenfalls ein Interview mit Katrin Bauerfeind, ca. 2005, als sie noch „Ehrensenf“ in Köln moderiert hat. Im Vergleich zu dieser Einfach-mal-machen-Atmosphäre damals ist dieses Buch manchmal ein bisschen routiniert (ich glaube, jedes einzelne Kapitel hat eine inhaltliche Klammer vom ersten zum letzten Satz, wie beim Spiegel), aber trotzdem schräg und unterhaltsam. In einem Jahr mit sehr viel Wartezeit auf dem Weg von oder zu diversen Flughäfen war das hier ein guter Griff als Reiselektüre.“
 

“Fucking Moscow” von Chris Helmbrecht.
fucking moskauWer diesen Titel mit „Verdammtes Moskau“ übersetzen möchte, liegt leider falsch. Stattdessen vögelt sich hier jemand durchs Hauptstadtleben, halb athlethisch, halb blasiert, gerne auch mal frauenfeindlich und rundum mit der Erotik einer Runde Zirkeltraining.
 

“Mr Penumbra’s 24-Hour Bookstore” von Robin Sloan.
„Ein Gesicht wie ein Fehler 404“ ist nur eines von vielen sprachlichen Bildern, die das Buch bei mir hinterlassen hat. Mehr dazu hier.
 

“Das eingeschossige Amerika” von Ilja Ilf/Jewgeni Petrow.
das eingeschossige amerikaDas wahrscheinlich berühmteste Autorenduo der Sowjetunion bestand aus den Satirikrn Ilja Ilf und Jewgeni Petrow. In den Dreißigerjahren sind sie zusammen durch die USA gereist, chauffiert in (natürlich) einem Ford, und haben für ihre Leser zuhause alles aufgeschrieben: was ein drugstore ist und was „downtown“, wie allgegenwärtig die Werbung für Coca-Cola und wie es ist, Henry Ford zu einer Audienz treffen zu dürfen. Und ja, das ist ein kapitalismuskritischer, sowjetisch geprägter Blick aufs Land, aber vor allem ein neugieriger mit viel Interesse am Alltag und einem Blick für Details. Die 2011er Ausgabe ist schon wieder vergriffen, aber es gibt sie bei Amazon für den Kindle.
 

“The Ode Less Travelled” von Stephen Fry.
ode less travelledEines der Bücher, an denen ich 2014 den meisten Spaß hatte. Im Urlaub auf der Wiese, im Regionalexpress in NRW, in Moskau am Schreibtisch. Mehr dazu hier (zuerst lesen) und hier (danach).
 

“Internet-Meme” von erlehmann/plomlompom.
internet-memeNützlich, anschaulich, sprachlich manchmal recht drüsch – aber dafür reißt das bunte Thema es immer wieder raus: Wer sich für die Geschichte der Meme interessiert oder dafür, unter welchen Bedingungen sie gedeihen, ist nach diesem Buch auf Stand und hat (Kopierpaste! Snowclones!) auch gleich noch ein paar neue Vokabeln gelernt.
 

“Christopher and His Kind” von Christopher Isherwood.
christopher and his kindNochmal Christopher Isherwood (für 2015 liegt noch mehr auf dem Lesestapel), diesmal über seine Zeit in Berlin, das schwule Nachtleben, den Aufstieg der Nazis und Isherwoods Versuch, seinen deutschen Partner Heinz außer Landes in Sicherheit zu bringen. Viele Versuche, auf halblegalen Wegen an ein Visum für ihn zu kommen, scheitern; die beiden hangeln sich von Land zu Land, bis die Gestapo Heinz fasst.
 

“The Rosie Project” von Graeme Simison.
rosie projectDon ist 39, Wissenschaftler mit ausgeprägten autistischen Zügen und auf der Suche nach einer Frau im Sinne von Ehefrau – per Liste mit strengen Kriterien. Als Folge eines verunglückten Dates sortiert Don zum Beispiel alle Frauen aus, die glauben, es mache einen Unterschied, ob man zum Nachtisch Pfirsich- oder Aprikoseneis isst. Und ja, das ist sehr lustig, aber nicht auf Dons Kosten, sondern dadurch, dass unterschiedliche Vorstellungen davon, was „normal“ oder „richtig“ ist, miteinander kollidieren. Sony will es verfilmen, das macht mir ein bisschen Angst, aber gut. Mal abwarten.
 

“Great Britain's Great War” von Jeremy Paxman.
great warIn einem Jahr, wo die Tische in den Buchläden voll liegen mit Literatur zum Ersten Weltkrieg, war das hier das eine, an das ich mich gewagt habe – wegen des Autors. Interessant war vor allem seine Einschätzung, wie der Krieg die britische Gesellschaft verändert hat.
 

“Making History” von Stephen Fry.
making history„Schockierend geschmacklos“ fand die New York Times (bzw. ihre Autorin Michiko Kakutani) dieses Buch, in dem zwei Männer mit sowas ähnlichem wie Zeitreise-Technologie zu verhindern versuchen, dass Hitler geboren wird. Ich bin immer noch baff, wie sie zu dem Verriss kommt, denn abgesehen vom britischen Humor schneidet dieses Buch Fragen an, über die man gut und lange diskutieren kann: Wie entscheidend war Hitler als Person? War er der eine Mensch, der ein Volk verführen konnte, oder war die Stimmung in der deutschen Bevölkerung so, dass das auch anderen gelungen wäre? Welche Mittel sind gerechtfertigt im Kampf gegen das Böse? Und wenn sich das Böse in einem Menschen manifestiert, wird ohne ihn dann alles gut oder ist das, möglicherweise, ein Kinderglaube? Der Moment, in dem es Hitler nie gegeben hat, ist darum hier im Buch auch nicht der Schluss.
 

“Diaries 1969 - 1979” von Michael Palin.
michael palin diaries600 Seiten, ein Brocken von einem Buch, und trotzdem durfte es mit ins Flugreisegepäck, weil Michael Palin einfach so unterhaltsam schreibt. Weil es faszinierend ist, wie Kreativität bei Monty Python funktioniert, auch wenn sich immer mal wieder lästige Orga-Aufgaben und Promotermine dazwischendrängen (und im Zweifel immer an Palin hängenbleiben und nie an John Cleese). Und auch, weil das ganze Umfeld einem erst recht klar macht, wie revolutionär dieser Humor zu seiner Zeit war, und wie viele Instanzen, von Fernsehsendern bis zu Filmverleihern, versucht haben, ihn einzudampfen, damit er doch bitte gefälliger und weniger provokant wird.
 

“Stuff White People Like” von Christian Lander.
Ein Buch gewordenes Blog, ursprünglich erkennbar ausgerichtet auf amerikanische Leser. Aber ja, auch als Europäerin hab ich mich oft erwischt gefühlt.
 

“Alltag in Moskau” von Lois Fisher-Ruge.
alltag in moskauIst wahrscheinlich für niemanden sonst heute noch interessant, aber der Vergleich zwischen Journalistenalltag in Moskau damals und heute kann schon helfen, sich 2014 an manchem weniger festzubeißen. Die durften damals noch nicht mal eine Kanu-Tour machen, ohne ihre Route vorher zur Genehmigung einzureichen, und Klopapier haben sie sicherheitshalber beim Umzug direkt mitgebracht. Dagegen sind der heutige Formularwahn und das Importverbot für genießbaren Käse dann doch kleinere Baustellen.
 

“More Fool Me” von Stephen Fry.
more fool meNicht so gut wie „Moab Is My Washpot“ und „The Fry Chronicles“, und ich glaube, es liegt daran, dass es weniger um Stephen Frys Innenleben und seine Suche danach geht, wo in der Welt er so hingehört. Auch „More Fool Me“ ist immer noch unterhaltsam, aber jetzt eher eine Sammlung von Döneken rund um britische Promis. „Wie ich mal bei einem sympathischen Fremden befürwortet habe, dass er Mitglied in meinem Club werden darf, und dann war das doch der soundso aus der Band soundso und ich kannte den gar nicht.“ Hm.
 

“The Peculiar Life of a Lonely Postman” von Denis Thériault.
the peculiar lifeJa, okay, ich hab das wegen des Covers gekauft. Was kein Fehler war, die kleine Geschichte über Liebe, Dichtung und Identität liest sich schnell mal so weg – und hat bei allem Flausch am Schluss dann sogar noch einen klugen Dreh, sowas mag ich ja gern.
 

“The Assassination of Margaret Thatcher” von Hilary Mantel.
mantel thatcherIm September hat der Guardian die Titelgeschichte der Kurzgeschichtensammlung veröffentlicht, und ja, am Ende ist Thatcher tot, aber darum geht es nur bedingt. Die ersten paar Geschichten sind alle auf ihre Art düster, da bleibt vor allem die Stimmung als Eindruck. Und dann „Harley Street“, deren Schlusspointe ich sowas von gar nicht habe kommen sehen, dass ich sie direkt noch mal lesen musste und gar nicht fassen konnte, was mir alles durchgegangen war. Aber auf sowas war ich nach dem ganzen Bedrückenden einfach nicht gefasst. Ein klasse Buch jedenfalls, und überhaupt: Kurzgeschichten werden 2015 mehr gelesen!
 

“Moranthology” von Caitlin Moran.
moranthologyGesammelte Kolumnen von Caitlin Moran, viele gut, manche ausgezeichnet. Schon allein für den Text darüber, was für sie als Außenseitermädchen aus der wahrscheinlich ärmsten und sicher unkonventionellsten Familie im Ort die Stadtbücherei bedeutet hat, ist eine Hymne aufs Lesen, die das ganze Buch lohnt.
 

“The Elegance of the Hedgehog” von Muriel Barbery.
elegance hedgehogWochen später, und ich weiß immer noch nicht, ob das nun ein intelligentes, philosophisch angehauchtes Buch ist oder doch ziemlich exakt kalkulierter Edelkitsch. Besonders hängengeblieben: das oberflächliche Oberschichts-Paar, dass seine Töchter „Colombe“ und „Paloma“ nennt (zwei Täubchen), die Katzen aber „Constitution“ und „Parliament“. Nach diesem hier und dem einsamen Postmann weiter oben muss ich jedenfalls so schnell kein drittes Buch mehr lesen, in dem westliche Seelen durch Begegnung mit japanischer Kultur Erlösung finden.
 

“Saints of the Shadow Bible” von Ian Rankin.
saints of the shadow bibleBei John Rebus geht es ja gerne mal um die großen moralischen Fragen. Diesmal auch, und der Ton ist für seine Verhältnisse manchmal regelrecht heiter. Er hat mehr als sonst die Zügel in der Hand, und man gönnt ihm das so, dem ollen, abgeklärten Sack.
 

“Russki Extrem” von Boris Reitschuster.
russki extremSchon ein paar Jahre alt, taugt aber immer noch als kleines Russland-Einsteigerbuch. Der Stil ist mir manchmal ein bisschen zu betulich (hab mich gefragt, ob das mal Kolumnen waren, und ob da ein Redakteur den berüchtigten Satz gesagt hat, man solle beim Leser nicht so viel voraussetzen), aber ja, kann man gut mal lesen.
 

“Comfort and Joy” von India Knight.
comfort and joyGekauft bei Oxfam in London – das Buch konnte ja nur gewinnen. India Knight kannte ich bisher nur von Twitter, hier schreibt sie über eine Weihnachts-Perfektionistin, und nein, das ist nicht so klischeeig, wie es gerade klingt. Aber nachdem jahrelang die englische Tradition gewahrt werden muss, ist das schönste Fest im Buch dann das im sonnigen Ausland. Vermutlich hat die Geschichte eine Moral, das stört aber nicht weiter.
 

“How To Be A Woman” von Caitlin Moran.
how to be a womanWer sich noch mal vergewissern möchte, wie das alles war mit dem Feminismus, warum das Thema weiter wichtig ist und man keine anstrengende Spaßbremse ist, wenn man es wichtig nimmt: Das hier ist euer Buch. Es ist das wahrscheinlich bestgelaunte Buch über Sexismus und was man dagegen tun kann, es hat eine Haltung und einen unverwechselbaren Ton.
 

“Das goldene Kalb oder die Jagd nach der Million” von Ilja Ilf/Jewgeni Petrow.
Noch mal Ilf und Petrow, diesmal Roman statt Reisereportage, und ich hab mich ein bisschen schwer damit getan. Einerseits ist die Sprache ungewohnt, fantasievoll, anschaulich und viele Formulierungen so, dass man sie dringend laut vorlesen muss. Andererseits ist diese Episodenform mit immer neuen Protagonisten, immer neuen Situationen, auf Dauer doch ein bisschen „Harald und Eddi“.
 

“An Armenian Sketchbook” von Vasili Grossman.
armenian sketchbookNachdem der KGB das Manuskript für seinen jüngsten Roman beschlagnahmt hatte, reiste Vasili Grossman Anfang der Sechziger nah Armenien, um dort einen Roman zu übersetzen. Nebenher entstand dabei dieses Buch, eine Mischung aus Reisebericht und lautem Nachdenken über Stalins Politik, über Nationalismus und Propaganda, über innere Emigration und Selbstmord. Ohne große Struktur – Grossman schreibt sich alles von der Seele – aber in klarer Sprache und bei allem Ernsten auch mit viel Humor, Wärme und Selbstironie. (Im Anhang gibt es ein kleines Glossar, was bei den vielen literarischen und historischen Anspielungen auch wirklich hilfreich ist.)
 

Danke an alle Buch-Empfehler, an meine Book-Club-Mädels, die netten Leute vom Moscow Book Swap und an alle, die direkt oder über Umwege Bücherbote gespielt haben, damit alles gut in Moskau ankommt. Ihr habt einen gut!

Wie ich mich mal von einem israelischen Ministerium überwachen ließ

israel handy 
Israel, Heimat des logischen Zirkels: „Bitte seid drei Stunden vorher am Flughafen, wegen der Sicherheitskontrolle.“ – „Ich hab Sie zur Kontrolle rausgewunken, weil ich gesehen hab, dass Sie noch Zeit haben.“

Aber das ist ja erst beim Abflug. Noch stehe ich in der Schlange zur Einreise-Passkontrolle, vor mir eine Frauengruppe aus Kasachstan, hinter mir ein dänisches Rentnerpaar. Seit 90 Minuten geht das hier nun schon so, langsamer als an allen anderen Schaltern. Denn unsere Kontrollfrau scheint noch zu lernen, telefoniert viel rum, öffnet ständig die Durchreiche zum Kabuff nebenan, um Fragen zu stellen.

Wir sind also leichte Beute, die Kasachinnen, die Dänen und ich, für den Mann, der außen an unserem Pferch entlanggeht. Er möchte uns etwas Gutes tun (klar), aber nichts verkaufen (ach?). Im Auftrag des Tourismusministeriums verteilt er hier Handys, einschließlich kostenlose Gespräche, SMS und Internet und dem Versprechen von 50 Dollar als Duty-Free-Gutschein. Einzige Bedingung: Man muss das Handy immer dabei haben und drauf achten, dass es noch Saft hat. Wo wir sind und wie wir dort hinkommen, beides will das Ministerium wissen.

Darf es gerne. Wir sind hier als Journalistengruppe, alles Alumni von IJP-Austauschsprogrammen. Unterstützt wird die Reise vom Auswärtigen Amt – viel offizieller, und damit öffentlicher, kann ein Reiseprogramm nicht sein. Auch die Frau am Schalter lässt sich als erstes den Programmablauf vorlegen, winkt dann aber ab: „Das ist ja auf Deutsch, dann erzählen Sie’s mir mal.“ Normal bin ich kein Fan von „Ich hab nichts zu verbergen“-Argumentationen, aber beim Ablauf dieser fünf Tage stimmt’s. Viel Neues, außer den Routen von A nach B, wird das Handy nicht ermitteln können.

LG Handy Israel  

Was das Ministerium bei der Sache gelernt haben kann:

– dass, wer mit dem Hält-an-jeder-Milchkanne-Shuttle vom Flughafen in die Stadt fährt, sich auf dem Rückweg garantiert für ein anderes Verkehrsmittel entscheidet. Taxi, Tretroller, von Schildkröten gezogener Rennschlitten. Alles ist schneller als das.

– dass wir einen Tag in Ramallah waren, unter anderem in der deutschen Vertretung, bei der palästinensischen Autonomiebehörde und bei einer Gesprächsrunde mit palästinensischen Journalisten. Wäre irgendwas davon eine Neuigkeit für die israelischen Behörden, würde mich das ernsthaft überraschen. Mal sehen, so oder so, ob das bei der nächsten Einreise irgendwann ein Thema wird.

– dass sich bei vier Tagen Regen am Stück auch die Halter von Leihhandys bevorzugt drinnen aufhalten und sich auf Kichererbsenbasis ernähren, dabei aber keine besonders spektakulären Datenspuren hinterlassen.

– dass von dem Telefon aus einmal gesmst wurde, zweimal telefoniert und einmal kurz im Internet was nachgeschlagen, die verloren geglaubte Jacke dann aber letztlich doch nicht im Hotel lag, sondern in Moskau auf der Fensterbank.

– dass im Abendstau von Tel Aviv auch der vollste Akku irgendwann leer ist.

Und das habe ich gelernt:

– Wer ein wandelnder persönlicher Hotspot ist, muss im Bus nie alleine sitzen.

– So ein persönlicher Hotspot ist auch nützlich, wenn man selber sich nicht vom Leihtelefon in allerlei persönliche Accounts einloggen will, sondern vom eigenen. Auf wirklich Sensibles hab ich auch so nicht zugegriffen, aber zum Twittern war’s schon nützlich.

– Wenn das, wie von frotzelnden Kollegen behauptet, doch ein Mossad-Handy war, dann habe ich den verpeiltesten Agenten aller Zeiten als Ansprechpartner gehabt. Fast hätte er das Handy nicht mal zurückbekommen, weil er nicht rechtzeitig am vereinbarten Ort war. Reifenpanne, soso.

– für 50 Dollar kann man im Duty-Free-Shop so viel Kosmetik aus Schlamm kaufen, dass das Tote Meer danach einen halben Meter tiefer ist.

– mein nächstes Handy wird auf gar keinen Fall eines von LG. Gott, die Benutzeroberfläche – das Gegenteil von intuitiv. Einen eingehenden Anruf anzunehmen hat erst im zweiten Versuch geklappt, und wie man im Browser eine Seite zurück geht, hab ich bis zum Schluss nicht herausgefunden. Das lern ich dann irgendwann beim nächsten Israel-Besuch – falls das Ministerium dann wieder Handys verteilt.

Putin des Monats (III)

putin des monats dezemberGesehen: In einem indischen Restaurant in Sankt Petersburg. Nachfrage bei der Kellnerin ergab: Ja, der hat hier früher gerne mal gegessen. Vladimir Putins politische Karriere begann Anfang der Neunziger in Sankt Petersburg.

Begleitung: Zwei weitere lächelnde Herren, wie Putin in glänzendem lachsrosa Umhang. Falls sie jemand kennt, gerne in den Kommentaren Bescheid sagen.

Text: „Präsident Putin schenkte dieses Photo im Jahr 2005 dem Restaurant ‚Tandoor‘.“

Subtext: Schaut mal, ich kann auch „Pretty in Pink“.

Oben-Ohne-Punkte: -5/10, er hat sich sogar noch was Zusätzliches drübergezogen.

(Ab 2015 heißt der ‚Putin des Monats‘ versuchsweise ‚Putin der Woche‘. Es gibt einfach zu viele gute Motive, Personenkult sei Dank, um nur alle vier Wochen eines zu zeigen.)

The Ode Less Travelled, oder: da dam da dam da dam da dam da dam

Von Stephen Fry was Neues geht ja immer. Mit Hingabe guck ich schon lang QI (das hier hilft auch an grauen, trüben Tagen), les seine Bücher und retweete Tweets.

The Ode Less Travelled“ kannte ich noch nicht, dabei ist es schon länger auf dem Markt. Es geht, ganz grob, um Dichtung. Um das Werkzeug, das jeder hat, wenn er mit Sprache spielt. Wobei Herr Fry am Anfang erst mal streng ist und seinen Leser schwören lässt: Dass der sich Zeit nimmt für das Buch, dass er die Verse darin, wenn möglich, laut vor sich hin liest. Beim dritten Punkt hab ich etwas gepfuscht: Man soll, schreibt Stephen Fry, stets ein Notizbuch mitnehmen, ganz egal, wohin man geht. Das war mir in der Metro doch zu lästig, geschrieben hab ich also nur daheim.

ode less travelled stephen fryFry legt schnell los, zitiert sich durch Gedichte, schreibt eigene, die oft recht schmutzig sind. Dann, alle paar Kapitel, eine Übung, bei der der Leser selbst zum Autor wird: Im jambischen Pentameter zu schreiben braucht gar nicht so viel Übung, bis es fluppt.

Natürlich hilft es dabei, dass auf Englisch für vieles eine Silbe reicht, das heißt: Von birth und death bis hin zu sun und moon ist alles kurz und dadurch passgenau. Das Buch vertreibt auch zügig so Ideen wie die, dass sich am Schluss was reimen muss. (Reim-Übungen gibt’s trotzdem, was ein bisschen mehr Arbeit für Nicht-Muttersprachler macht.)

Nach ein paar Tagen steht das Ritual: dieselbe Kladde und derselbe Stift, das Datum oben in die Ecke – los! Nichts davon taugt, um es hier zu zitieren – aber der Stolz auf die paar Zeilen wärmt. Schnell fließt mit jedem Mal das Englisch besser, der Versfuß hinkt und stolpert auch nicht mehr. Kein Herz auf Schmerz, stattdessen neue Formen: ein Cento, ein Haiku, dann ein Rubai.

Was bleibt nach diesem Buch? Die volle Kladde mit Übungen in Bleistift – und ein Puls. Der jambische Pentameter sitzt so, dass selbst das Bloggen seinen Regeln folgt. Wer das nicht glaubt, klickt hier für den Beweis.

The Ode Less Travelled – der Beweis-Post

Shall I compare thee to a summer’s day?“ – das ist immer noch die klassische Beispielzeile für einen ‚iambic pentameter‘. Unglaublich eingängig, der Rhythmus, zu dem es auch noch Variationen gibt. Manchmal zum Beispiel nicht zehn, sondern elf Silben, auch wenn weiterhin nur fünf betont sind: „To be or not to be, that is the question.“

Das ganze Detailgekröse gibt es hier, mich hat einfach nur gereizt, zu probieren, ob sowas auch bei normalem Blog-Fließtext geht, ohne dass man ihn in die Form reinprügeln muss. Der Beleg steht hier drunter: Derselbe Text wie beim Original-Post, aber gesetzt wie ein Gedicht, damit jede Zeile ihre fünf Füße herzeigt. Mehr Sprach-Nerd kann man vermutlich kaum sein, als an sowas Spaß zu haben.

Von Stephen Fry was Neues geht ja immer.
Mit Hingabe guck ich schon lang QI
(das hier hilft auch an grauen, trüben Tagen),
les seine Bücher und retweete Tweets.

“The Ode Less Travelled” kannte ich noch nicht,
dabei ist es schon länger auf dem Markt.
Es geht, ganz grob, um Dichtung. Um das Werkzeug,
das jeder hat, wenn er mit Sprache spielt.
Wobei Herr Fry am Anfang erst mal streng ist
und seinen Leser schwören lässt: Dass der
sich Zeit nimmt für das Buch, dass er die Verse
darin, wenn möglich, laut vor sich hin liest.
Beim dritten Punkt hab ich etwas gepfuscht:
Man soll, schreibt Stephen Fry, stets ein Notizbuch
mitnehmen, ganz egal, wohin man geht.
Das war mir in der Metro doch zu lästig,
geschrieben hab ich also nur daheim.

Fry legt schnell los, zitiert sich durch Gedichte,
schreibt eigene, die oft recht schmutzig sind.
Dann, alle paar Kapitel, eine Übung,
bei der der Leser selbst zum Autor wird:
Im jambischen Pentameter zu schreiben
braucht gar nicht so viel Übung, bis es fluppt.

Natürlich hilft es dabei, dass auf Englisch
für vieles eine Silbe reicht, das heißt:
Von birth und death bis hin zu sun und moon
ist alles kurz und dadurch passgenau.
Das Buch vertreibt auch zügig so Ideen
wie die, dass sich am Schluss was reimen muss.
(Reim-Übungen gibt’s trotzdem, was ein bisschen
mehr Arbeit für Nicht-Muttersprachler macht.)

Nach ein paar Tagen steht das Ritual:
dieselbe Kladde und derselbe Stift,
das Datum oben in die Ecke – los!
Nichts davon taugt, um es hier zu zitieren –
aber der Stolz auf die paar Zeilen wärmt.
Schnell fließt mit jedem Mal das Englisch besser,
der Versfuß hinkt und stolpert auch nicht mehr.
Kein Herz auf Schmerz, stattdessen neue Formen:
ein Cento, ein Haiku, dann ein Rubai.

Was bleibt nach diesem Buch? Die volle Kladde
mit Übungen in Bleistift – und ein Puls.
Der jambische Pentameter sitzt so,
dass selbst das Bloggen seinen Regeln folgt.
Wer das nicht glaubt, klickt hier für den Beweis.

Alltagsrassismus, oder: Warum man nicht mit „City Mobil“ Taxi fahren sollte

Woran ich mich auch nach fast an einem Jahr in Russland nicht gewöhnt habe (und auch nicht gewöhnen möchte), ist der Alltagsrassismus. Du unterhältst dich mit jemandem, den Du seit Monaten kennst, über seine Wohngegend: „Wär ne gute Ecke, wenn die ganzen Tadschiken nicht wären.“ Jemand anderes, mit dem Du regelmäßig Zeit verbringst, fasst seinen Urlaub zusammen: „Gutes Wetter, aber das war voller Türken da, und du weißt ja, wie die stinken.“

Jedes andere Gespräch bis zu diesem Punkt war komplett normal, es sind Bekanntschaften entstanden, Freundschaften – und dann kommt so eine Aussage. Ansprechen hilft auch nicht: „Ach komm, Du weißt doch, wir Russen haben es nicht so mit der politischen Korrektheit.“ Als wäre das die Baustelle.

Von der Alltags-Homophobie („der Typ ist mir suspekt, sein Name klingt schwul“) und dem Alltags-Antisemitismus („in Wirklichkeit ist nicht Putin an der Macht, sondern die jüdische Weltverschwörung“) haben wir dann noch nicht mal angefangen; geschweige denn von der Tatsache, dass das keineswegs hinter vorgehaltener Hand geäußerte Meinungen sind, durch den Filtermechanismus gedrungen nach vier Glas Wodka.

Kein Innehalten, kein betretenes „das ist mir so rausgerutscht“, keine Anzeichen dafür, dass man gerade etwas Schlimmes oder auch nur Ungewöhnliches gesagt haben könnte.

Was genau der Punkt ist, denn solche Sprüche sind tatsächlich Alltag – auch von gebildeten Menschen, Menschen mit Auslandserfahrung. Menschen, bei denen ich einen weiteren Horizont erwartet hätte. Das geht Hand in Hand mit dem Hurra-Patriotismus, der um so sichtbarer ist, je mehr den Russen ein gemeinsames Feindbild präsentiert wird; sei es nun die Regierung in der Ukraine oder die westliche Sanktionspolitik.

Ich wünschte also, ich wäre überrascht gewesen, bei Facebook auf den folgenden Post zu stoßen. Er zeigt einen Screenshot aus der App, mit der man sich einen Wagen von „City Mobil“ kommen lassen kann. Auf der Liste der Zusatzleistungen: Klimaanlage, Kindersitz, Raucher-Auto, slawischer Fahrer.

 

Ja, tatsächlich, einen slawischen Fahrer kann sich der geneigte Passagier herbeirufen, sogar kostenlos, im Gegensatz zum Kindersitz, der immerhin 100 Rubel kostet. In der englischen Fassung der App ist von „slavonic“ statt „slavic“ die Rede, weshalb ich mich kurz gefragt habe, ob wohl „russischsprachig“ gemeint sein könnte.

Taxi City Moskau Rassismus 

Aber nein, das russische Original sagt eindeutig „slawisch“ – und bei einem russischen Taxi-Unternehmen ist die Wahrscheinlichkeit, dass man „russischsprachig“ extra buchen muss, ja auch eher gering. Bisher hat hier noch jeder Taxifahrer russisch gesprochen, viele waren aber keine Russen. Sondern Turkmenen, Usbeken, Kasachen.

Zentralasiaten fegen Moskaus Straßen, schaffen den Müll weg, ackern auf Baustellen – und sind hier die Hauptzielscheibe für Ausländerfeinlichkeit. City Mobil kennt also seine Kunden, wenn es ihnen anbietet, sich auf Wunsch lieber von einem Russen (Polen? Serben? Bulgaren?) fahren zu lassen.

Was bleibt, sind eine Frage und eine Antwort. Die Frage ist, wie Apple eigentlich Apps mit rassistischen Inhalten behandelt. Grundsätzlich gibt es durchaus Vorschriften, besonders stringent scheinen sie aber nicht zu sein.

Und die Antwort? Bei Bekannten entdeckt man manchmal erst nach einiger Zeit, woran man ist. Bei City Mobil wissen wir es jetzt alle. Die Antwort kann also nur heißen: anderswo bestellen.

(Hat tip an Grace, durch die der FB-Post in meiner Timeline erschienen ist, und an Sebastian für Infos zu Apples Regelungen.)